Edward Elgar


The Kingdom, op. 51

Francesca Chiejina (Sopran – The Blessed Virgin), Dame Sarah Connolly (Alt – Mary Magdalene), 

Benjamin Hulett (Tenor – St. John), Ashley Riches (Bass – St. Peter) 

Crouch End Festival Chorus

London Mozart Players

David Temple (Leitung)

 

Signum Classics SIGCD896 (2 CD)

 

 

Begeisterung mit Abzügen – David Temple dirigiert Elgars „The Kingdom“

 

Elgars letztes großformatiges geistliches Chorwerk „The Kingdom“ war eine schwere Geburt. Es sollte die Fortsetzung des 1903 uraufgeführten Oratoriums „The Apostles“ werden, dessen Komposition Elgar bereits außergewöhnlich stark gefordert hatte. Tatsächlich hatte er hier seine Vorstellung von einem dreiteiligen Werk nicht umsetzen können und das Werk nach dem zweiten Drittel mit der als Zwischenfinale gedachten Himmelfahrt Christi abgeschlossen. „The Kingdom“ nun stellt effektiv den dritten Teil von „The Apostles“ dar. Doch auch die Arbeit an dieser Komposition ging dem Komponisten alles andere als leicht von der Hand.

Nachdem das Jahr 1904 ausgesprochen erfolgreich für Elgar verlaufen war, entpuppte sich das Jahr 1905 als Annus horribilis. Seine Streicherkomposition „Introduction and Allegro“ fiel beim Publikum durch, die Professur und Vorlesungsreihe in Birmingham gestaltete sich als Fiasko, die als grauenvoll empfundene USA-Reise, das Gefühl von öffentlichen Verpflichtungen erdrückt zu werden: all dies sorgte nicht für einen Nährboden, aus dem Inspiration leicht und gut erwachsen konnte. Statt beflügelt zu komponieren, erlebte Elgar eine ausgedehnte depressive Episode und beschloss schließlich, die Arbeit abzubrechen. Mit Durchsetzungskraft stimmte ihn seine Frau Alice um und sorgte – im Verbund mit Elgars Verleger Alfred Littleton – dafür, dass das Werk letztlich 1906 beim Birmingham Festival aufgeführt werden konnte. Auch hier gelang es Elgar nicht, sein ursprüngliches Konzept vollständig umzusetzen.

Die Reaktionen auf das Werk fielen höchst unterschiedlich aus. Auf der einen Seite gab Rezensenten, die das Werk auf einer Ebene mit Bachs „Matthaus-Passion“ sahen. Andere hingegen – wie auch der ihm an sich zugetane Kritiker Ernest Newman – waren der Auffassung, dass Elgar mit „The Kingdom“ keinerlei „frische oder wahrhaft wesentliche Musik“ brächte.

Bis heute wird die Qualität des Werkes sehr unterschiedlich eingeschätzt. Dementsprechend gehört „The Kingdom“ zu jenen Werken Elgars, die einigermaßen selten zur Aufführung kommen. Auch haben es bislang nur vier Dirigent gewagt, dieses Werk auf Tonträger zu bannen, und zwar Sir Adrian Boult (1968), Leonard Slatkin (1987), Richard Hickox (1989) und Sir Mark Elder (2009). Nach 15 Jahren kommt nun endlich eine weitere Einspielung hinzu.

Anlässlich des 40jährigen Bestehens des Londoner Crouch End Festival Chorus, hat dessen Leiter David Temple 2004 „The Kingdom“ für Signum Classics aufgenommen. Gemeinsam mit ihm und seinem Chor musizieren die London Mozart Players sowie Francesca Chiejina (Sopran), Dame Sarah Connolly (Alt), Benjamin Hulett (Tenor) und Ashley Riches (Bass).

David Temple zeigt sich in seinen einleitenden Worten zur Aufnahme als echter Verfechter des Werkes, das er für „ein Juwel von der ersten bis zur letzten Note“ hält. Und tatsächlich ist das, was man aus der schwierigen Genese des Werkes schnell ableiten könnte, falsch. „The Kingdom“ ist musikalisch mitnichten uninteressant oder gar Zeugnis eines künstlerischen Versagens. Adrian Boult meinte sogar, es sei mindestens so herausragend wie der „Gerontius“, ja sogar besser, denn es sei „ein viel ausbalancierteres Werk und erhalte durchweg einen Strom wunderbarer Musik, wohingegen es in Gerontius durchaus ein Auf und Ab“ gäbe.

David Temples folgt dieser Einschätzung Boults. Seinem Anliegen, mit dieser Produktion erneut eine Lanze für das Werk zu brechen, kann er in weiten Teilen nachkommen.

Herausragend ist seine Vorbereitung des Crouch End Festival Chorus. Das Ensemble singt jederzeit klangschön, überzeugt durch ein hervorragendes Mischungsverhältnis von Frauen- und Männerstimmen, charakterisiert die von ihm auszufüllenden unterschiedlichen Rollen (Volk, Mystischer Chor, Jünger und heilige Frauen) trefflich und glänzt konsequent durch ausgezeichnete Textverständlichkeit. Gerade letzteres ist bei so einem großen Ensemble, wie es dieser Chor nun einmal ist, keine Selbstverständlichkeit. Aber auch die reichhaltigen Anweisungen zur Dynamik und Abstufung werden penibel beachtet und jederzeit vorbildlich umgesetzt. Und so unterscheidet sich beispielsweise ein Piano tatsächlich jederzeit deutlich wahrnehmbar von einem Pianissimo und ein Forte von einem Fortissimo. Beispielhaft kann man das – mit und ohne Noten in der Hand – bereits im ersten Abschnitt (In the Upper Room) gut nachvollziehen.  

Dass das so gut funktioniert, liegt auch am Spiel der London Mozart Players. Auch wenn das Ensemble in verstärkter Besetzung spielt, so ist es doch etwas kleiner besetzt als es für dieses Werk bislang üblich war. Temple, der seine Karriere selbst als Chorsänger begonnen hat, achtet gemeinsam mit dem Orchester gezielt darauf, dass weder in den saftigsten Aufschwüngen noch in den vom Chor geradezu ätherisch hingehauchten Pianopianissimi das Orchester den Gesang und damit dessen Gestaltung und Verständlichkeit überlagert. Davon ab sind die London Mozart Player aber nicht bloß aufgrund ihrer Zurückhaltung zu loben. Sie sind zwar gute „Begleiter“, aber eben auch durchweg beachtliche Gestalter dieser emotional breit aufgestellten, farbigen und facettenreichen Partitur. Schon das Prelude zeigt die gestalterische Bandbreite des Orchesters in nuce. Der festliche Beginn („Allegro moderato“), die Wendung hin ins Mystisch-Geheimnisvolle (9 vor Ziffer 4), das Auftreten des sogenannten New Faith-Motivs bei Ziffer 6 (dolce e solenne) und dessen Aufblühen – all das ist alles ausgesprochen delikat und überzeugend gestaltet.

Nicht vollständig befriedigend präsentiert sich das Solistenquartett.

Ashley Riches gestaltet die zentrale Partie des heiligen Petrus. Sein Bass bringt hierfür klanglich durchaus das nötige Material mit. Es ist eine im besten Sinne stattliche Partie, die Elgar hier entworfen hat, eine Partie für deren Darstellung es stimmliche Kraft, Würde (nicht selten notiert Elgar bei Einsätzen Petrus‘ „con dignita“ oder „solenne“) Flexibilität, Umfang und Gestaltungsmacht braucht. Riches singt, daran gibt es nichts zu deuteln, aus der Perspektive der Rolle gesehen einen durchweg soliden Petrus. Und doch: sein sehr intensives Vibrato wirkt auf die Dauer störend, besonders aber, wenn er darüber versucht, Volumen zu entwickeln (z.B. in „At the Beautiful Gate“, Ziffer 130 ff.: „Look on us“). Hinzu kommt, dass er in den hohen Lagen doch einigermaßen stark mit seiner Technik befasst scheint und darum in der Textausleuchtung bei Weitem nicht an Interpreten wie Benjamin Luxon (bei Slatkin) oder den ausgesprochen nuanciert gestaltenden John Shirley-Quirk (bei Boult) heranreicht.

Auch Dame Sarah Connolly überzeugt in dieser Aufnahme nur eingeschränkt. Natürlich ist sie eine eindrucksvolle Interpretin und Gestalterin. Insbesondere ihre Darstellung des Beginns von „At the Beautiful Gate“ und der Inhaftierung Petrus‘ und Johannes‘ durch die Priester und Sadduzäer („The Arrest“) ist kraftvoll und von enormer Intensität. Allerdings bringt auch sie bei aller Interpretationskunst mittlerweile ein recht starkes Vibrato mit, das sich in höheren Lagen unvorteilhaft verstärkt. Zusätzlich hat die Stimme im oberen Register eine gewisse scharfe Härte entwickelt, die sie bisweilen angestrengt wirken lässt. 

Sopranistin Frencesca Chiejina hat das Privileg und gleichzeitig die nicht eben einfache Aufgabe, mit der Meditation der heiligen Jungfrau Maria („The sung goeth down“) die interpretatorisch vielleicht anspruchsvollste Szene in „The Kingdom“ zu gestalten. Sie meistert diese Aufgabe ohne nennenswerte technische Defizite (wenngleich sie einen Hang dazu hat, sich bisweilen in Spitzentöne hineinzudrehen). Sie bringt einige wunderbare Piani, hat genug Kraft, um in der Passage nach Ziffer 157 („How great are thy signs“) das satt aufspielende Orchester mühelos zu überflügeln und ist textlich meist gut zu verstehen. Und doch fehlt ihrer Darstellung am Ende das letzte Quäntchen an innerer Involviertheit, wie es beispielsweise Dame Margaret Price in Boults Aufnahme mobilisieren kann.

In der Rolle des heiligen Johannes einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen, ist nicht einfach, da die Partie selbst nur wenige herausgehobene Momente hat. Einer davon ist „Unto you that fear His name“ und Tenor Benjamin Hulett ergreift sie beim Schopf. Elegant, leicht, dennoch mit Strahlkraft und geschmackvoller Gestaltung hinterlässt er einen durchweg guten Eindruck.  

Blickt man auf David Temples Gesamtdarstellung des Werkes, so kann man sie guten Gewissens als von Detailvielfalt und stilistischer Sicherheit geprägt bezeichnen. Sein Ziel, für das Werk eine Lanze zu brechen, erreicht er – wenn auch mit Einschränkungen. Was dieser Aufnahme fehlt, ist ein konsequent durchgehaltenes Maß and intensiver Begeisterungsfähigkeit. Die Begeisterung für die Partitur und vor allem der Mut eben diese als Leitstern für das Herangehen an diese Musik ist konsequent von den ersten Tönen dieser Aufnahme an spürbar. Der Hörer wird nicht unmittelbar für das Werk eingenommen, sondern erlebt beim Hören der Aufnahme gewissermaßen ein emotionales Crescendo. Richtig packend zeigt sie sich erst vom 4. Abschnitt an. Insbesondere die Tatsache, dass Temple gerade die ersten drei Abschnitte – und damit auch die zentrale Pfingstszene, die qua Thema nun gerade um die Begeisterung kreist – auf der emotionalen Ebene fast durchgehend mit leicht angezogener Handbremse musizieren lässt, ist zu bedauern. Nur in einzelnen Abschnitten (z.B. in dem Turba-ähnlichen Abschnitt „Solomon’s Porch“, Ziffer 84 ff.) kommen Fahrt und Dramatik im rechten Maß auf. Doch hier sollte der Hörer schon längst der dem Werk innewohnenden Begeisterung erlegen sein. Ein insgesamt beherzteres Herangehen an die Grenzbereiche des Ekstatischen und etwas weniger Understatement hätte diese Aufnahme vielleicht über andere herausheben können. Eine ordentliche Wahl, auch für eine Erstbegegnung, ist diese Einspielung jedoch allemal.  

© Wolfgang-Armin Rittmeier