Elgar: Sinfonie Nr. 2 - "... the thing is tremendous in energy."



Entstehung

Irgendwann gegen Ende des Jahres 1910 kaufte sich Elgar einen Datumsstempel. Sein Freund, der große Dirigent Hans Richter, hatte es ihm vorgemacht und Elgar war von dieser kleinen Idee entzückt. Der Besitz eben dieses Stempels sorgt heute dafür, dass sich der Kompositionsprozess der zweiten Symphonie Elgars chronologisch gut nachvollziehen lässt, hat Elgar doch fortan jedes Partiturblatt der zweiten Symphonie gestempelt. Nicht eindeutig zu klären ist allerdings, wie alt die Ideen waren, die das thematische Ausgangsmaterial für die Symphonie darstellten. Elgar hatte ständig kleine musikalische Einfälle von oft geradezu epigrammatischer Kürze, die er nicht einfach vorübergehen ließ, sondern sorgfältig notierte und teilweise Jahre später wieder hervorholte und zum Einsatz brachte. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die 1907/08 entstandenen "Wand of Youth"-Suiten, deren Sätze auf thematischem Material basieren, das noch aus Elgars Kindheit stammte. Oscar Wildes Sohn Vyvyan Holland beschrieb Elgars Vorgehensweise in seinem Buch "Time Remembered" wie folgt:

"Wenn ich mich an Edward Elgar erinnere, so sehe ich einen großen Mann, vor Energie schäumend und immer in Eile [...]. Wenn das Wetter gut war, nahm er mich mit auf einen Spaziergang entlang der Ufer des Wye und diskutierte mit mir voll von jugendlichem Enthusiasmus über jedes Thema, das ihm in den Sinn kam. Er trug immer kleine Blätter Notenpapier mit sich herum und ab und an nahm er eines aus seiner Tasche, um ein paar Noten hinzukritzeln, die ihm eben durch den Kopf gegangen waren. Dabei summte er. Einmal hat er mir erzählt, er hätte musikalische Tagträume, genau so wie andere Leute heroische oder abenteuerliche Tagträume hätten. Er könne, sagte er, fast jeden Gedanken, der ihm in den Sinn käme, musikalisch ausdrücken." (Holland, zit. n. Moore 1984, 604.)

Auch in die zweite Symphonie sind wohl allerhand alte Ideen aus Elgars Skizzenbuch aufgenommen worden. Diana McVeagh vermutet, dass beispielsweise Material aus der um 1898 herum geplanten "Gordon Symphony", einem Werk, das den bei Khartoum gefallen britischen Helden General Charles Gordon verherrlichen sollte, in die Komposition eingeflossen ist. Kennedy geht darüber hinaus davon aus, dass Elgar auch auf Skizzen zu einer 1903/04 angefangenen und nicht fertiggestellten Symphonie zurückgegriffen hat.
Andere Motive sollen auf Besuche in Venedig (1909) und Tintagel (1910) zurückgehen. So finden sich beispielsweise in der Symphonie verwendete Fragmente in einem Skizzenbuch, das Elgar in Careggi begann. Doch letztlich entwickelte sich die Symphonie zum größten Teil während der Komposition, die - obwohl Elgar gleichzeitig dabei war, das Violinkonzert fertigzustellen - ausgesprochen zügig voranging.
Anfang Oktober 1910 spielte Elgar einem seiner Freunde, dem englischen Historiker und Musikwissenschaftler Charles Sanford Terry, bereits aus den Skizzen vor. Terry erinnert sich:

"Lebhaft erinnere ich mich nur an das freudestrahlende erste Thema des ersten Satzes und an das an einen Trauermarsch erinnernde Thema des langsamen Satzes. [...] Ich erinnere mich daran, dass er Anfang Oktober darüber nachdachte, das das Rondo eröffnende Motiv und den langsamen Satz eng auf einander zu beziehen, da sie seiner Erklärung nach den Kontrastzwischen dem Inneren des Markusdoms in Venedig und der sonnenüberfluteten Piazza davor darstellen sollten." (Moore 1984, 595.)

An seine Muse "Windflower" (Alice Stuart-Wortley) schrieb Elgar etwa zeitgleich:

"Ich [...] bin auch mit der zweiten Symphonie etwas vorangekommen & sitze an meinem Schreibtisch und webe seltsame & wundervolle Erinnerungen in sehr schwache Musik - fürchte ich." (Brief an Alice Stuart-Wortley vom 25.10.1910)

Im November muss Elgar die Arbeit an der Komposition unterbrechen, da die Uraufführung des Violinkonzertes mit Kreisler in der Queen's Hall ansteht und daraufhin weitere "conducting engagements" (Moore 1984, S. 595) in ganz England folgen.
Im Dezember kehrt Elgar in sein Haus "Plas Gwyn" in Hereford zurück, wo er am 7. Dezember wieder über der zweiten Symphonie sitzt. Im Januar 1911 beginnt Elgar die Partitur auszuarbeiten und setzt die erste Zeile des erst später "Invocation" genannten Shelley-Gedichtes "Song" aus dem Jahre 1821 an deren Beginn: "Rarely, rarely comest thou, / Spirit of delight!" Später schreibt er diesbezüglich in einem Brief an Alfred Littleton:

"Um sich der Stimmung der Symphonie anzunähern, sollte man das gesamte Gedicht Shelleys lesen. Doch die Musik illustriert das gesamte Gedicht ebenso wenig, wie das Gedicht die Musik in ihrer Gesamtheit erhellt." (Brief an Littleton vom 9.5.1911)

Im Januar ist Charles Sanford Terry erneut zu Besuch in "Plas Gwyn" und erhält einen weiteren Einblick in Elgars Arbeitsweise:

"Er sagte, er habe nicht die Absicht, die neue Symphonie mittels eines verbindenden Themas, wie es die Symphonie in A-Dur eröffne und schließe, zu einem organischen Ganzen zu machen. Er wollte, dass sie vielmehr der direkte Ausdruck jener Musik sei, die aus seiner inneren Quelle sprudele. Am 4. und 5. Januar verbrachte er den größten Teil des Morgens damit, seine Skizzen durchzuspielen und es war interessant, seinen Arbeitsprozess zu verfolgen. Die Form eines jeden Satzes, vor allem dessen Höhepunkt, stand ihm klar vor Augen. Tatsächlich sagte er oft, dass es der Höhepunkt sei, den er stets zuerst kläre. Doch alles in allem sei da auch eine große Masse an fluktuierendem Material, das auch ins Werk hineinpassen könne, während sich das Werk in seinem Geist auf seine endgültige Gestalt hin entwickle, denn es käme aus dem gleichen Ofen, in dem auch alles andere gegossen worden sei. Nichts stellte ihn zufrieden, bis es selbst und sein Zusammenhang gleichsam zwingend notwendig wirkte." (zit. n. Moore 1984, S. 601).

Am 29.1. schreibt Elgar an "Windflower".

"Ich habe im ersten Satz, den ich eben gerade beendet habe, das letzte Jahr festgehalten & muss Dir sagen: Ich habe wie im Fieber gearbeitet & das Ding ist voll ungeheurer Energie." (Brief vom 29.1.1911. Zit. n. Moore 1984, 604)

Am nächsten Tag beginnt er die Ausarbeitung des langsamen Satzes, am 1.Februar zitiert er in einem Brief an Frances Colvin, die Frau des berühmten Kunstkritikers Sidney Colvin, ein weiteres Shelley-Zitat, das wohl im Zusammenhang der Symphonie zu verstehen ist: "I do but hide / Under these notes, like embers, every spark / Of that which has consumed me." (Brief vom 1.2.1911. Zit. n. Moore 1984, 605.) Elgar arbeitet wie im Rausch. Am 6. Februar ist das Larghetto fertig, die Arbeit am Rondo beginnt ein paar Tage später und wird am 16. Februar abgeschlossen. Am darauffolgenden Tag wird Elgar angeboten, Richters Nachfolge als Chefdirigent des London Symphony Orchestra anzutreten, was er gerührt annimmt. Am 28. Februar notiert Elgar die letzte Note des Finales und setzt der Partitur die folgende Widmung voran

Dedicated
To the Memory of
His late Majesty
King Edward VII.

Der König, der Elgars Vornamen trug und mit dem er sich gut stand, war am 6. Mai 1910 verstorben.

Elgar hatte es tatsächlich fertiggebracht, die Symphonie noch vor seiner Konzertreise nach Amerika fertigzustellen, deren Terminierung (März/April1911) es zwingend nötig gemacht hatte, die für Mai angekündigte Symphonie noch vorher abzuschließen. Am 18. März reist er per Schiff über den Atlantik, wo er in den folgenden zwei Monaten in Toronto, Buffalo, Cincinatti, New York, Indianapolis, Chicago und Milwaukee auftritt. Gefallen hat es ihm in Amerika - trotz aller Erfolge dort - nicht sonderlich:

"Ich habe durchaus Sympathie für die ordentlichen Männer & Frauen der Vereinigten Staaten, allerdings versinken diese völlig hinter der himmelschreienden Gewöhnlichkeit der niveaulosen Massen. Amerika ist auf einem schlechten Wege - [...]."(Brief an Ernest Newman vom 26.4.1911. Zit. n. Moore 1984, 605)

Direkt nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten am 9. Mai 1911 beginnen die Proben für die Uraufführung der neuen Symphonie im Rahmen des "London Music Festival", das mit "The Dream of Gerontius" unter der Leitung von Henry Wood am 22. Mai eröffnet wird. Am 23. Mai spielt Kreisler das Violinkonzert und am 24. Mai kommt es schließlich zur Uraufführung der 2. Symphonie.

 

Aufnahme

"Was ist los mit ihnen, Billy? Sie sitzen da wie eine Horde vollgestopfter Schweine." (Reed 1946. S. 105)

Diese an den ersten Geiger des London Symphony Orchestra William Reed gerichteten Worte - Reed war ein sehr guter Freund Elgars - bestimmen seit jeher den Blick auf die Art der Aufnahme, die Elgars zweite Symphonie angeblich in der Öffentlichkeit gefunden hat. Quasi jeder Booklet-Text weist basierend auf dieser Aussage des Komponisten darauf hin, dass die Symphonie durchgefallen sei. Betrachtet man die Pressemeldungen, so scheint es hier jedoch einen gewissen Bruch zwischen der Wahrnehmung Elgars und den historischen Tatsachen zu geben. Beschäftigt man sich etwas intensiver mit der Person Elgars, so kann man nicht daran vorbeisehen, dass er immer wieder anfällig für Depressionen gewesen sein muss, sehr leicht vor den Kopf gestoßen und geradezu von mimosenhafter Empfindlichkeit, wenn sich eine Reaktion auf eines seiner Werke nicht so einstellte, wie er sich das vorgestellt hatte. Ähnliches mag hier der Auslöser für diese negative Bemerkung Elgars gewesen sein.
Tatsache war aber auch, dass die Queen's Hall am Tag der Uraufführung nicht - wie gewohnt - voll besetzt war. Der Elgar nicht wohlgesonnene junge Kritiker Francis Toye, der Elgar schon in seiner Kritik des Violinkonzertes freudvoll als ganz altes Eisen begraben hatte, schrieb nicht ohne Häme:

"Das Interesse war in der Tat so groß, dass die teureren Reihen in der Queen's Hall ordentlich gefüllt waren, wohingegen der Rang nicht einmal zur Hälfte besetzt war." (Toye in "The Bystander" vom 7.6.1911, zit. n. Moore 1984, 615)

Die teureren Sitze nahm - so legen es Toyes Worte nahe - das Londoner Establishment ein. Die billigen Plätze, die normalerweise mit jungen und modernen Kunstinteressierten besetzt waren, blieben leer. Einfacher Schluss: Elgar war der Komponist der arrivierten Upper Class und damit vollkommen aus der Mode. Michael Kennedy berichtet in seiner älteren Elgar-Biographie allerdings von einem Gespräch mit dem ebenfalls bei der Uraufführung anwesenden Journalisten Richard Capell, in dem dieser deutlich macht, dass seiner Ansicht nach ein entscheidender Grund für die schmale Auslastung der Queen's Hall die vollkommen überzogenen Kartenpreise waren. Zum anderen sei das anwesende Publikum schlicht von den drei an diesem Abend gegebenen Uraufführungen erschlagen gewesen (neben Elgars Symphonie gab es an diesem Abend noch Granville Bantocks "Dante and Beatrice" sowie Walford Davies' "Parthenia"-Suite). (vgl. Kennedy 1968, 200).
Die meisten Pressereaktionen hingegen fielen insgesamt eher positiv aus. In "The Referee" konnte man lesen, der Applaus sei lang und laut gewesen, Ähnliches war in der "Times" zu lesen; die "Daily Mail" sprach von einer "Orgie von Farbe und Freude" und ; der "Telegraph" teilte mit, das Publikum hätte "ausgesprochen enthusiastisch" reagiert, zumal das Werk der ersten Symphonie deutlich überlegen sei (vgl. Moore 1984, 615; Kennedy 1984. 200 f.). Und doch: Das Publikum blieb auch bei den nächsten Aufführungen aus. Auch in den kommenden Jahren wurde das Werk selten gespielt. Elgar hatte - man kann es nicht anders sagen - zwar einen Achtungs-, jedoch keinen Publikumserfolg erzielt. Michael Kennedy bringt es mit wenigen Worten auf den Punkt: "The Elgar boom was over." (Kennedy 2004, 129).
Elgar verfiel - wieder einmal - in tiefe Selbstzweifel, die selbst dadurch nicht ausgeräumt werden konnten, dass ihm am 19. Juni 1911 der prestigeträchtige "Order of Merit" verliehen wurde. Hinzu kamen Schwierigkeiten mit seinem Verlagshaus Novello, die schließlich zur Auflösung ihrer langjährigen Partnerschaft führten, was Elgars ohnehin schon düstere Stimmung nicht eben verbesserte. An den Präsidenten des Verlagshauses Alfred Littelton schrieb er:

"Ich habe kein Werk vorrätig & denke fortan nicht mehr daran, in Zukunft ein umfangreiches Werk vorzulegen; ich werde mir große Werke nur noch vorstellen, sie aber nicht mehr schreiben; sie zu schreiben wäre verlorene Liebesmüh." (Brief an Littleton vom 30.6. 1911).

An diesen Vorsatz sollte er sich halten. Was in den nächsten Jahren folgte, war insgesamt kleinformatiger, wenngleich nicht weniger kunstfertig: die "Music Maker", der "Falstaff", das Streichquartett, das Klavierquintett und schließlich das Konzert für Violoncello und Orchester.

Musik

Elgars zweite Symphonie hat vier Sätze mit folgenden Tempobezeichnungen:

1. Allegro vivace e nobilmente - Più lento
2. Larghetto
3. Rondo. Presto
4. Moderato e maestoso

Das Orchester ist wie folgt besetzt:

3 Flöten (3 auch Piccolo), 2 Oboen, Englischhorn, 2 B-Klarinetten, Es-Klarinette, Bassklarinette, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Große Trommel, Kleine Trommel, Becken, Tamburin (ad lib), 2 Harfen, Streicher

Es folgen ein paar persönliche Eindrücke.

Der erste Satz beginnt ausgesprochen ungewöhnlich. Alles hält fast einen Takt lang b. Es ist, als sähe man ein Rennpferd vor dem Start in seiner Box, das voller Energie und Nervosität darauf wartet, endlich losgaloppieren zu dürfen. Dann öffnet sich die Box und es geht los. Mit einem Sextaufschwung galoppiert das Werk los und sofort (T 3) begegnet man in den Violinen dem "Spirit-of-Delight"-Thema, das bisweilen als Motto-Thema bezeichnet wird. Meines Erachtens fehlt ihm für ein Motto die wirkliche Deutlichkeit. Man erkennt es auch nur, wenn man weiß, dass es da ist. Schließlich sind es auch nur wenige Töne, eher eine Phrase denn ein Motto, eher ein Epigramm als ein Thema. Im Gegensatz dazu erstreckt sich das Motto-Themader ersten Symphonie über eine lange Reihe von Takten. Nun entwickelt sich ein kraftvoll nach vorn drängendes musikalisches Geschehen, bis bei Ziffer 8 die zweite Themengruppe mit einem für Elgar typischen nostalgisch gefärbten Motiv beginnt. Es schließt sich eine kurze lyrische Episode an. Der Satz nimmt wieder Fahrt auf, ein erster Höhepunkt wird erreicht. Doch die Energie ist schnell verbraucht und es kommt (ab Ziffer 24) zu einem sonderbaren, in seiner Stimmung nur schlecht zu beschreibenden Abschnitt von einer gewissen düsteren Spannung. Diese erreicht ihren Höhepunkt ab Ziffer 28, von wo an die Violinen und Celli in hoher und höchster Lage über dem finsteren Grummeln von Pauken und Gran Cassa eine geradezu morbide (?) Melodie singen. Elgar beschreibt die Stelle in einem Brief an "Windflower" folgendermaßen:

"Ich habe die außergewöhnlichste Passage komponiert, die ich je gehört habe - eine Art unheilvoller Einfluss, der in einer Sommernacht durch den Garten wandelt." (Brief an Alice Stuart-Wortley vom 29.1.1911; Kennedy 1970, 50)

Doch der "Spirit of Delight" verdrängt die Schatten, das warme nostalgische Thema taucht wieder auf, bis es bei Ziffer 56 ("brillante") mächtig anzieht und der Satz sich deutlich in Richtung Finale wendet. Noch ein vorbereitender Moment der Ruhe, dann wird einen Takt nach Ziffer 65 tuschartig der Schluss vorbereitet, dem der Satz dann im Accelerando glanzvoll zueilt.

Der zweite Satz (Larghetto) ist für mich persönlich einer der Gipfelpunkte des Elgar'schen Werkes. Bei Aufführungen und Aufnahmen der Symphonie entscheidet sich in meinen Ohren an diesem Satz, wie der Dirigent als Interpret Elgar verstanden hat und ob sich dieses Bild mit dem, welches uns Zeitgenossen und Biographen geben, ansatzweise deckt:

"Er machte auf mich auch damals schon den Eindruck eines außergewöhnlich nervösen, zwiegespaltenen und heimlich unglücklichen Menschen [...]; tief in seinem Herzen fürchtete er sich vor der Zukunft." (Ernest Newman, zit. nach Moore 2004, 52.)

Diesem Charakterzug an die Seite treten gehörige Selbstzweifel an seiner musikalischen Kompetenz, die ihn auch nach den Erfolgen der „Enigma-Variations“ oder der ersten Symphonie zu Aussagen wie dieser bringen: "Am Ende bin ich ja nur ein Amateurkomponist..." (zit. nach Moore 2004, 7.)

Je älter Elgar wird, desto heftiger quälen ihn diese Selbstzweifel, er fragt sich, was von seiner Musik wohl bleiben wird, sein Blick auf das Leben verdunkelt sich, die Angst vor der Zukunft, gepaart mit einer gewissen Resignation und Bitterkeit wird deutlicher spürbar. Diese Unsicherheit findet – wenn man so weit gehen möchte – auch Ausdruck in seiner Erkrankung an der Menièrschen Krankheit, die der psychischen Unsicherheit die physische folgen lässt. Viel von dieser Stimmungslage kann man mE in diesem Satz hören.

Was nun tatsächlich den zweiten Satz der zweiten Symphonie angeregt hat, bleibt - wie immer - unklar. Am häufigsten kann man in Booklet-Texten lesen, der Satz stelle eine Klage um König Edward VII dar, der am 6. Mai 1910 gestorben war. Da Elgar die Symphonie dem verstorbenen Monarchen gewidmet hatte, ging man davon aus, dass das Larghetto – das man in Teilen als langsamen Marsch verstehen kann – eine Art Trauermarsch für Edward darstellen sollte. Diese Vorstellung hält sich zum Teil noch bis heute, auch wenn Elgar selbst davon nichts wissen wollte: "Der Satz ist elegisch, hat aber nichts mit einem 'Trauermarsch' zu tun & ist eine 'Reflexion', die sich aus dem Gedicht ableitet." (Elgar, zit. nach Moore 2004, 157.)

Mittlerweile geht man im Großen und Ganzen jedoch davon aus, dass der Satz eher durch den Verlust zweier Freunde, namentlich Hans Richter, der zurück nach Deutschland gegangen, und Alfred Rodewald, der bereit 1903 verstorben war, inspiriert wurde. Zu diesem Zeitpunkt entstanden bereits Skizzen, aus denen sich dann später das Larghetto entwickelte. Hinzu tritt als Verstärkung sicher der Geist des Shelley'schen „Song“, dessen Forumulierung einer Verlusterfahrung im Grunde nur Wasser auf das Mühlenrad der ohnehin eher depressiv gestimmten Disposition Elgars war. „How shall ever one like me / Win thee back again?” fragt das lyrische Ich und das eher trübe Ende des Satzes scheint mir diese Frage nicht beantworten zu können. Eine schöne Beschreibung des Satzes liefert Michael Kennedy in seiner ersten Elgar-Biographie:

"Der Satz ist persönlich und zeremoniell und enthält mit der Passage, in der die Oboe im freien Kontrapunkt ein Klagelied über dem feierlichen Schritt des Trauermarsches singt, einen der eindruckvollsten Einfälle Elgars. Der Höhepunkt, wenn die Streicher anscheinend versuchen, das Unausdrückbare des Leides auszudrücken, bringt paradoxerweise einen Moment von tröstender Erhebung, gerade so wie die Sonne, wenn sie plötzlich durch die Wolken bricht. Und nichts berührt mehr als die letzten Takte, die sich zu Ende schleppen, als seien sie von der Feierlichkeit des Todes überwältigt worden." (Kennedy 1968, 206.)

Das Rondo ist ein Satz, der zunächst eine ganz heitere Atmosphäre vortäuscht. Man hat das Gefühl, einem heiteren Treiben zu lauschen, einem wilden Spiel, in dem es mal zarter und mal rustikaler zugeht. Dann aber wechselt die Stimmung: Plötzlich taucht der "unheilvolle Einfluss" erneut auf, jetzt allerdings weniger unheimlich, sondern insistierend und aggressiv. Das Schlagwerk steigert sich in eine unerbittlich pulsierende, geradezu hämmernde Passage hinein, in deren Fluten der Rest dessen, was das Orchester spielt, untergeht. Elgar selbst hat davon gesprochen, dass eine Passage aus Lord Tennysons Gedicht "Maud" ihn inspiriert hätte. Später erklärte Elgar während einer Orchesterprobe, wie dieser Abschnitt zu spielen sei:

"Mit großem Nachdruck und zitternder Stimme sagte er: 'Nun, Gentlemen, an dieser Stelle möchte ich Sie bitten sich vorzustellen, dass meine Musik einen Menschen im Fieberwahn darstellt. Der ein oder andere von Ihnen wird jenes schreckliche Pulsieren im Gehirn kennen - es macht es fast unmöglich, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen. Das Gehämmer muss nach und nach alles andere übertönen. Meine Herren am Schlagwerk: Sie müssen mir alles geben! Ich möchte, dass sie peu à peu den Rest des Orchesters ertränken." (The Orchestra Speaks. London 1938. S. 135; zit. n. Moore 1984, 608.)

Schließlich das Finale. Ich habe einmal gelesen, sein Anfang erinnere an eine Passacaglia, wie Brahms sie hätte komponieren können. Der Vergleich hinkt nicht. Hier haben wir endlich eine immerhin über 4 Takte reichende Melodie, die einen durchweg positiven Charakter hat. Doch bleibt es nicht bei dieser Eindeutigkeit, denn ihr wird ein zweites Thema beigeordnet, das eher unruhig ist und die vermeintliche Klarheit streckenweise trübt. Schließlich tritt bei Ziffer 142 ein Thema "nobilmente" hinzu, das Elgar einige Jahre zuvor notiert und mit "Hans himself" beschriftet hatte. "Hans himself" ist natürlich Elgars guter Freund Hans Richter. Dieser Moment mitten im Finale ist wie eine späte Erinnerung an die "Enigma-Variations", die Elgar "My friends pictured within" gewidmet hatte. Hier reicht Elgar Richters Bild großartig nach.
Danach ist alles klar. Die Lasten, die Leidenschaften fallen ab, "alle Sorgen werden geheilt & geadelt" (Brief Elgars an Littleton vom 13.4.1911). Doch gibt es keine große affirmative Geste, sondern einen stillen, verklärten Schluss, den Jerrold Northrop Moore folgendermaßen interpretiert:

"Und so wendet sich dieses Finale, um dem neuen Jahrhundert eine der letzten Antworten zu geben, die es von jener alten Welt erhalten konnte, die es nun nicht mehr gab." (Moore 1984, 609)

 

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Benutzte Literatur

Kennedy, Michael: A Portrait of Elgar. London 1968.
Kennedy, Michael: Elgar. Orchestral Music. London 1970.
Kennedy, Michael: The Life of Elgar. Cambridge 2004.
Moore, Jerrold Northrop: Edward Elgar. A Creative Life. Oxford 1984.
Moore, Jerrold Northrop: Elgar. Child of Dreams. London 2004.
Reed, W.H.: Elgar. London 1946.

Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser dieses Artikels.

 

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Einspielungen

Über die Zeit hat sich bei mir eine fast komplette Diskographie der zweiten Symphonie Elgars angesammelt:

01. Elgar (1924/25), The Royal Albert Hall Orchestra: 13:32 / 12.12 / 07:41 / 12:18
02. Elgar (1927), London Symphony Orchestra: 14:37 / 13:02 / 08:00 / 12:24
03. Boult (1944), BBC Symphony Orchestra: 16:23 / 14:08 / 07:57 / 13:37
04. Barbirolli (1964), Hallé Orchestra: 19:24 / 13:50 / 08:19 / 14:18
05. Sargent (1964), BBC Symphony Orchestra: 17:26 / 14:16 / 08:12 / 14:44
06. Barenboim (1973), London Philharmonic Orchestra: 18:46 / 14:16 / 07:57 / 15:10
07. Solti (1975), London Philharmonic Orchestra: 15:30 / 15:30 / 07:49 / 12:33
08. Boult (1976), London Philharmonic Orchestra: 17:30 / 14:13 / 08:02 / 13:18
09. Gibson (1977), Scottish National Orchestra: 15:53 / 13.06 / 08:13 / 14:20
10. Swetlanow (1977), USSR Symphony Orchestra: 14:01 / 15:54 / 07:11 / 14:00
11. Handley (1981), London Philharmonic Orchestra: 17:36 / 13.40 / 08:19 / 14:35
12. Haitink (1984), Philharmonia Orchestra: 20:30 / 16:02 / 08:25 / 14:03
13. Thomson (1985), London Philharmonic Orchestra: 20:17 / 15:24 / 09:11 / 16:35
14. Sinopoli (1987), Philharmonia Orchestra: 20:43 / 18:25 / 09:00 / 17:14
15. Slatkin (1989), Philharmonia Orchestra: 17:15 / 15:11 / 07:40 / 14:43
16. Tate (1991), London Symphony Orchestra: 19:17 / 17:21 / 08:28 / 17:23
17. Davis, A. (1992), BBC Symphony Orchestra: 18:57 / 13:59 / 08:23 / 15:09
18. Downes (1993), BBC Philharmonic: 17:16 / 15:01 / 08:13 / 15:33
19. Previn (1993), London Symphony Orchestra: 17:11 / 14:34 / 08:00 / 14:47
20. Mackerras (1994), Royal Philharmonic Orchestra: 16:13 / 15:03 / 08:07 / 13:20
21. Davis, C. (2001), London Symphony Orchestra: 18:23 / 16:19 / 08:26 / 14:30
22. Elder (2003), Hallé: 18:08 / 15:43 / 08:29 / 16:19
23. Hickox (2005), BBC National Orchestra of Wales: 16:35 / 15:05 / 08:14 / 15:13
24. Davis, A. (2007), Philharmonia Orchestra: 18:54 / 13:56 / 08:38 / 15:56
25. Ashkenazy (2008), Sydney Symphony: 18:05 / 14:04 / 08:12 / 14:42
26. Oramo (2011), Royal Stockholm Philharmonic Orchestra: 17:33 / 14:00 / 07:36 / 15:02

Ich kann und will nicht alle Titel ausführlich besprechen. Stattdessen werde ich in nächster Zeit und in lockerer Folge einige aus dieser Auswahl genauer vorstellen, die aus meiner Perspektive außergewöhnlich sind, beispielsweise Elgar 1927, Boult 1944, Svetlanov 1979 oder Sinopoli 1987.

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Besprechung einzelner Aufnahmen

1) Elgar (1924/25) – The Royal Albert Hall Orchestra - 13:32 / 12:12 / 07:41 / 12:18

Wir schreiben das Jahr 1924. Es ist das Jahr, in dem Lenin stirbt, in dem Fritz Haarmann in Hannover gefasst wird, in dem erstmals ein Fax über den großen Teich tackert, in dem die Kroll-Oper eröffnet wird und Edwin Hubble der Welt miteilt, dass die Milchstraße nur eine von vielen Galaxien ist. Es ist auch das Jahr, in dem im März 50 Herren im Vatermörder oder doch im moderneren „turndown collar“ in einem muffigen Raum des Aufnahmestudio Hayes zusammengedrängt Platz genommen haben. Es sind die Musiker des Royal Albert Hall Orchestra, die hier unter Leitung von Sir Edward Elgar dessen zweite Symphonie ungekürzt für die Schallplatte aufnehmen wollen. Um sie herum überall Aufnahmetrichter, die für das Aufzeichnungsverfahren der pre-electric recording notwendig sind.

Es ist Lani Spahrs ausgesprochen liebevoller Restaurierung zu verdanken, dass wir diese Aufnahmen heute einigermaßen gut anhören können. Sicher, es handelt sich nicht um eine Einspielung, die technisch in irgendeiner Weise mit einer Aufnahme von heute konkurrieren könnte. Es handelt sich – das muss ganz klar sein - in erster Linie um ein Dokument, das dem Hörer von heute zeigen kann, wie Elgar seine zweite Symphonie musizierte.

Als erstes wird deutlich, dass Elgar grundsätzlich eher zupackend an seine eigenen Werke geht, wenngleich seine Wahl der Tempi auch davon beeinflusst gewesen sein mag, dass das Werk ja auf eine gewisse Anzahl von Platten passen musste. So hat sein Allegro vivace im Kopfsatz wirklich einen stark vorwärts drängenden Zug, manche Passagen – beispielsweise das „brillante“ (bei Ziffer 17) – werden geradezu irrwitzig schnell gespielt. Dabei klingt alles irgendwie leicht, fast kammermusikalisch. Sehr schön gelingt die Vorstellung des die zweite Themengruppe einleitenden melancholischen Motives, nicht so gut hingegen die sinistre Stimmung des „malign influence“. Überhaupt muss man hier und dort ein gewisses Geschrammel in Kauf nehmen. Der zweite Satz wird ebenfalls sehr fließend gestaltet, deutlich das Rhythmische betonend. So gespielt hat er tatsächlich den Marsch-Charakter, der ihm so oft zugesprochen wird. Dabei ist er recht düster, das von Kennedy beschworene tröstliche Sonnenlicht will nicht so recht hervorbrechen. Das Rondo ist schnell, der wild-ausgelassene Charakter kommt gut zur Geltung. Allerdings schafft es die Percussionsgruppe nicht, im entscheidenden Abschnitt die nötige Gewalt aufzubieten, um alles andere untergehen zu lassen. „Con dignità “ soll das Finale einsetzen und selten habe ich das so überzeugend umgesetzt gehört wie hier. Elgar kitzelt einen ausgesprochen würdigen Ton aus den Mannen des Royal Albert Hall Orchestras heraus, wobei es ihnen nicht leicht fällt, dessen Stattlichkeit über den gesamten Satz zu halten. Die mit der Coda (Ziffer 167) einsetzende „Verklärung“ zelebriert Elgar tatsächlich nicht so straussisch-spätromantisch, wie man das später gemacht hat. Vielmehr endet die Aufnahme ruhig, ja fast überraschend beiläufig. Wer Elgar auf die „Pomp and Circumstance“-Märsche reduziert, der wird hier überrascht sein.
Fazit: Für den Aficionado ein unverzichtbares Dokument.

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2) Elgar (1927), London Symphony Orchestra: 14:37 / 13:02 / 08:00 / 12:24

Der technische Fortschritt machte es möglich. Kaum hatte Elgar 1924/25 seine zweite Symphonie auf Tonträger gebannt, so fragte man anlässlich seines 70. Geburtstages erneut an, ob er das Werk nun nicht noch einmal und mit einem vollen Symphonieorchester "elektrisch" einspielen wolle. Elgar wollte. Und so traf man sich, nur 18 Monate nach Veröffentlichung der ersten Einspielung, am 1. April 1927 in der Londoner Queen's Hall, um erneut das Opus 63 aufzunehmen. Als Orchester stand das London Symphony Orchestra zur Verfügung, Elgar selbst dirigierte. Man spielte das Werk in einem durch, nur die ersten Takte des Rondos wurden später (15.7.27) noch einmal aus technischen Gründen aufgenommen.

Man kann sich vorstellen, dass sich Elgars Art, das Werk zu interpretieren, in der kurzen Zeit nicht überdurchschnittlich stark gewandelt hat. Und doch klingt diese Aufnahme ganz anders, weil hier nicht nur 12 Streicher spielen (wie 1924/25), sondern ein voller romantischer Streicherapparat. Elgars Umgang mit dem Orchester ist höchst eindrucksvoll, die Kunst des Rubato scheint ihm vollkommen natürlich im Handgelenk zu sitzen, kein Tempowechsel, kein Übergang wirkt unnatürlich, alles fließt mit einer kaum in einer anderen Aufnahme zu hörenden Selbstverständlichkeit. Zur Wahl der Tempi kann man sagen, dass Elgar seiner druckvollen Gangart treu geblieben ist, insgesamt aber mehr variiert. So gibt es beispielsweise im Kopfsatz insgesamt deutlich größere Fluktuationen, das ist alles nicht nur schnell, sondern deutlich facetten- und auch farbenreicher als in der älteren Einspielung. Wie deutlich besser noch gelingt nun das erste Thema der zweiten Themengruppe, wie zwielichtig nun der "malign influence". Auch das dort schon fast exaltiert genommene "brillante" (s.o.) ist hier etwas zurückgenommen, ohne dass sein Charakter verloren ginge.

Der Trauermarsch klingt mit vollem Orchester natürlich ebenfalls satter, obwohl Elgar auch hier nicht übermäßig viel Butter aufs Brot schmiert, sondern viel Wert auf die Durchhörbarkeit legt. Dennoch strahlt der Satz eine größere Schwere, einen sakraleren Klang aus (man höre die höchst gewichtigen Posaunen in 1 vor Ziffer 69), wobei sich Elgar - im Gegensatz zu manchem späteren Interpreten seiner Werke - nicht in den wenigen hymnischen Momenten und Aufschwüngen des Satzes suhlt, sondern diese durchweg eher "implodieren" lässt (geradezu frappierend nebensächlich das fff des Streicherapparates kurz vor Schluss: Ziffer 86). Das ist schon ungewöhnlich und straft jene Lügen, die gebetsmühlenartig kritisieren, Elgar hätte viel mehr als "Pomp" nicht gekonnt. Einziges, rein technisches Manko hier: die scheinbar frei über dem Orchester schwebende Oboenmelodie (Ziff 79 ff "espress. molto rubato, quasi ad lib.), die in Elgars Ohren wie der Klagegesang einer trauernden Frau klingen sollte, ist kaum zu hören.

Elgars Herangehensweise an das Rondo entspricht ebenfalls in etwa der 1924/25er Aufnahme. Aber leider gilt auch hier: Der (angeblich) von Tennysons "Maud" inspirierte, für Elgars Verhältnisse geradezu brutale Abschnitt ab Ziffer 118, ist viel zu schwach. Hat man im Ohr, wie Boult (1944) oder Sargent das später (1964) machen, dann spottet das jeder Beschreibung. Das Finale beginnt noch etwas ruhiger und noch eine Spur sonorer als 1924/25. Insgesamt klingt da vieles nun doch spätromantisch-süffig, die Tendenz Elgars zur Implosion, die den langsamen Satz kennzeichnete, ist hier nicht mehr zu hören. Da wird positiv nach vorn geschaut, Elgar bemüht in seiner Interpretation - dort, wo angebracht - nun doch deutlich den in der Komposition angelegten affirmativen Tonfall, die große Geste - allerdings durchweg ohne jegliche emphatische Übertreibung (die beispielsweise 6 nach Ziffer 165 oft zu hören ist).

Sieht man vom starken Grundrauschen ab, so ist das mE eine auch heute noch wichtige Einspielung des Werkes.

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3) Boult (1944) – BBC Symphony Orchestra: 16:32 / 14:13 / 08:03 / 13:48

Während der Kriegsjahre wurden eine Reihe der Abteilungen der BBC aus London evakuiert. Dazu gehörte auch das BBC Symphony Orchestra, das mit seinem Chefdirigenten Sir Adrian Boult zunächst im westenglischen Bristol unterkam. Nachdem Bristol jedoch ab 1940 zum Ziel der deutschen Luftwaffe geworden war, wurde ein neuerlicher Umzug des Orchesters unumgänglich. Nach einigem Hin und Her erklärte sich die nördlich von London gelegene Stadt Bedford bereit, das Orchester aufzunehmen. Hier entstand unter Boults Leitung unter anderem seine erste Einspielung (insgesamt sollten es fünf werden) von Elgars zweiter Symphonie.

Diese erste Aufnahme gilt nun als Boults beste und ich bin geneigt diesem Urteil zuzustimmen.

Boult beginnt den ersten Satz kraftvoll und bei weitem nicht so nervös wie Elgar selbst. Man merkt sofort: Boult ist kein Kopist, sondern ein höchst eigenständiger Dirigent, der zwar persönlich eng mit dem Komponisten verbunden war, aber gleichzeitig seine ganz eigene Auffassung von dessen Musik hatte. Was diese Wiedergabe des Kopfsatzes so außergewöhnlich macht, ist die ungeheure Sicherheit im Umgang mit der Partitur, die Boult an den Tag legt. Da sitzt alles, aber auch alles perfekt. Die bei Elgar hochgradig wichtigen Übergänge beherrscht Boult im Schlaf, die Kunst des leichten, aber gekonnt eingesetzten Rubatos schüttelt er nur so aus dem Handgelenk. Hinzu kommt seine ungeheuer genaue, aber nicht buchstabierende Umsetzung der schieren Unmenge von Vortragszeichen, die Elgar notiert. Dazu gesellt sich die Fähigkeit, fantastische klangliche Momente zu gestalten, wie beispielsweise die außerordentlich zwielichtig gemachte Stelle bei Ziffer 13 oder das grandiose „Brillante“ bei Ziffer 17, das bei Weitem nicht so hysterisch klingt wie bei Elgar. Überaus gekonnt gelingt Boult die Zeichnung der „Malign-influence“-Passage sowie das sich anschließende „Tranquillo“, das ich ruhiger selten gehört habe.

Der langsame Satz setzt sehr, sehr düster ein. Seit Januar 1944 wurden englische Städte im Rahmen des „Unternehmen Steinbock“ erneut schwer bombardiert und ich halte es nicht für gänzlich abwegig, dass diese Härte auch Einfluss auf Boults Interpretation dieses Satzes gehabt haben mag. Aber es ist schon einigermaßen ungewöhnlich für Boult, mit wie viel Espressivo, mit welchem Maß an Pathos er hier bisweilen gestaltet – beispielsweise an so einer Stelle wie dem Motiv in 5 nach Ziffer 48, dessen erstes Achtel Boult höchst pathetisch verzögert. Doch der sich kurz einstellende helle Moment dunkelt sofort wieder nach und der Satz versinkt zurück in tiefe Traurigkeit. Ab Ziffer 71 folgt ein perfekter Aufbau hin zum ersten Höhepunkt bei 76, wobei der „Nobilmente“-Moment, der hier perfekt aufgebaut wurde, auch sofort wieder im Nichts versinkt. Den rhythmisch scheinbar freien Gesang der Oboe ab 79 lässt Boult eher leise, hintergründig, wie eine Stimme aus der Vergangenheit spielen. Das letzte Aufleuchten bei Ziffer 86 im fff implodiert förmlich und der Satz endet ähnlich hoffnungslos, wie er begonnen hat.

Den dritten Satz nimmt Boult wieder nicht ganz so schnell wie Elgar, er klingt nicht so agitiert, hat aber einen deutlich nach vorn strebenden Fluss. Den Einsatz des Unisono-Motives bei Ziffer 93 lässt Boult außergewöhnlich rustikal spielen. Es ist – wie von Elgar vorgeschrieben –ein richtiges „sonoramente“. Boult entwickelt den sich zuspitzenden Furor des Satzes mustergültig hin zum Ausbruch bei Ziffer 188, der von einer außergewöhnlich klingenden gestauten Vehemenz zeugt. Höchst eindrucksvoll!

Das Finale beginnt merkwürdig. Während der erste Einsatz des ersten Es-Dur Themas in den meisten Aufnahmen schon das positive Ende in sich trägt und dem Hörer somit eine grundlegende Zuversicht vermittelt, schafft es Boult, diesem von Bassklarinetten, Fagotten, Hörnern und Violoncelli vorgetragenen Thema das Positive zu nehmen, indem er die es umgebenden Figur in den zweiten Violinen, die Achtel der Flöten und Klarinetten sowie die Akkorde der Harfe ausgesprochen schrill und gespenstisch hervortreten lässt. Auch in Folge will keine rechte Freude aufkommen, vielmehr entwickelt Boult den Satz zunächst auf die Schlachtenklänge um 149 herum (con fuoco) hin, um erst mit dem Einsatz der Reprise ganz deutlich zu machen, dass der Satz einem versöhnlichen Ende entgegenstrebt. Und doch steht am Ende kein Bombast. Es ist eine große Geste, die Boult hier fünf nach 165 wählt. Die ganz große versagt er sich und dem Hörer jedoch.

Eine mE außergewöhnlich beachtenswerte Aufnahme.

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4) Sargent (29.01.1964, live: Colston Hall, Bristol) – BBC Symphony Orchestra: 17:26 / 14:16 / 08:12 / 14:44

Sir Malcolm Sargent, dem seine britischen Landsleute aufgrund seines stets eleganten Auftretens den augenzwinkernden Spitznamen „Flash Harry – Luxus Harry“ verliehen haben, hat Elgars Symphonien niemals als kommerzielle Aufnahmen eingespielt. Erst zum Elgar-Jubiläum 2007 wurde der vorliegende BBC-Mitschnitt einer Rundfunkübertragung vom 29. Januar 1964 veröffentlicht. Und was für ein Glück, denn Sargents Interpretation dieses Werkes ist – wenngleich nicht von berauschender Klangqualität – überaus hörenswert und zeugt von einer höchst individuellen Auseinandersetzung des Dirigenten mit dem Werk.

Schon der erste Satz macht deutlich, dass sich Sargent nicht so sehr an der von Elgar und Boult vorgegebenen Interpretationslinie orientieren wird. Das klingt vom ersten Takt an viel gewichtiger, das Schreiten der Unterstimmen ist wesentlich schwerer und führt zu einem etwas pompösen Klang. Auch das zweite Thema wird wesentlich breiter genommen als bei Elgar und Boult. Überhaupt wirkt der gesamte Satz gemessener, wobei das zustande kommt, indem Sargent meinem Eindruck nach einen etwas konsistenteren Grundpuls anschlägt und die vielen von Elgar gewünschten Veränderungen im Tempo etwas glättet. Der Beginn der Durchführung (Ziffer 24) gelingt ihm durch eine deutliche Verlangsamung ausgesprochen geheimnisvoll, so wie auch der „Maligne-influence“-Abschnitt, der ihm so intensiv gelingt, dass ich das Gefühl habe, ich befinde mich in einem musikalischen Pendant zu einer Spukerzählung Algernon Blackwoods.

Der zweite Satz beginnt ausgesprochen zurückgenommen. Sargent lässt das von Posauen und Trompeten vorgestellte erste Thema wie aus weiter Ferne spielen, fast klingt es nach Parsifal. Ebenso verläuft die Vorstellung des zweiten Themas in den Violinen (Ziffer 71) sehr verhalten. Ab Ziffer 74 entwickelt Sargent eine geradezu soghafte Steigerung, die sich ohne Überzeichnung im ersten Höhepunkt entlädt und ganz natürlich verebbt. Das hört sich so natürlich an, als würde Sargent im Grunde kaum gestaltend eingreifen. Nach der Parallelstelle (Ziffer 81) führt Sargent den Satz ganz selbstverständlich zu seinem Höhepunkt und lässt ihn – stark verlangsamt – in einem höchst wehmütig gespielten Streicherunisono verklingen. Toll.

Der Kontrast zum sich anschließenden Rondo könnte größer kaum sein. Sargent vermeidet jeden Anflug eines heiteren Tons, der Satz klingt nicht einen Moment lang spielerisch, sondern sofort wie durchgepeitscht, bei mir stellt sich beim Hören das Gefühl ein, es läge etwas höchst Ungutes in der Luft. Und tatsächlich. Sargent steuert unerbittlich auf die „Maud-Passage“ ab Ziffer 120 zu, in der er Elgars Hinweis tatsächlich umsetzt und das gesamte Orchester durch das unglaublich gewalttätige Gehämmer des Schlagwerkes untergehen lässt. Weder Elgar noch Boult haben das so vehement umgesetzt. Sargent macht das grandios – finde ich. Nach einem kurzen Moment der Ermattung prügelt Sargent den Satz dann rasend auf sein Ende zu. Chapeau.

Das Finale ist durch und durch nobel. Die spukhaften Momente, die Boult hier hervorzaubert, finden sich bei Sargent nicht. Das glanzvolle Thema wird in herrlichem Legatospiel vorgestellt, das sich in diesem Satz immer wieder einstellende Pathos wird mit allem Glanz und Gloria ausgekostet. Ganz besonders eindruckvoll gelingt Sargent der emotionale Höhepunkt ab 6 nach 148, indem er hier deutlich verlangsamt. Doch am eindrucksvollsten gelingt schließlich die ab Ziffer 167 einsetzende und sich fast bis ins Nichts hin auflösende „Verklärung“.

Trotz des etwas muffigen Klanges mE eine der 5 eindrucksvollsten Einspielungen des Werkes.

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5) Solti (1975) - London Philharmonic Orchestra: 15:30 / 15:30 / 07:49 / 12:33

Bereits 1972 war ein Ruck durch England gegangen. Zunächst war der gebürtige Ungar Georg Solti nach seiner zehn Jahre währenden Ägide am Londoner Royal Opera House von Elizabeth II in den Adelsstand erhoben worden und dann legte er auch noch eine Einspielung der ersten Symphonie Sir Edward Elgars vor, die die von Boult und insbesondere von Barbirolli etablierte Interpretationslinie der Elgar'schen Symphonien fundamental in Frage stellte. Es hatte sich über die Jahrzehnte eingeschlichen, Elgars Symphonien einigermaßen breit anzulegen, sich auf die pompöse Wirkung des berühmten „Nobilmente“ zu verlassen, weich zu zeichnen, die Werke als Vorläufer der „pastoral school“ zu spielen und das trotz des Umstandes, dass beide Fixpunkte des englischen Musiklebens (Boult & Barbirolli) Elgar persönlich kannten und wussten, dass dessen Ansatz vollkommen anders klang. Solti nun kehrte zurück zur Quelle und fand in den Tonaufzeichnungen Elgars (dazu s.o.) wenig dergleichen, stattdessen eine Tendenz zu sehr zügigen Tempi und eine vollkommene Vermeidung jeglicher Larmoyanz. Diese Haltung übernahm Solti und spielte daraufhin beide Symphonien ein: 1972 das Opus 55 und 1972 die Zweite in Es-Dur. Beide Aufnahmen sind seit ihrem Erscheinen eigentlich nie vom Markt verschwunden, gelten vielen Hörern auch heute noch als interpretatorische Höchstleistungen und stehen – so habe ich es hier und da einmal in „Eben gehört“ gesehen – offensichtlich auch bei dem ein oder anderen Capriccioso im CD-Regal.   

Und tatsächlich. Solti beginnt den ersten Satz - ganz nach Elgars Manier- forsch, das klingt nach einer Menge Saft und Kraft, was das London Philharmonic Orchestra hier produziert. Vergleicht man das mit dem tranigen Anfang der Einspielung, die mit eben diesem Orchester zwei Jahre zuvor unter Barenboim entstand, so gewinnt man den Eindruck, es spiele ein vollkommen anderes Ensemble. Auch das zweite Thema nimmt Solti sehr fließend, allerdings ohne dass es sich zu eilig anhören würde. Auch der zwielichtige Teil ab dem Beginn der Durchführung gelingt Solti mE ausgesprochen überzeugend. Er hat und nimmt sich viel Zeit und schält einzelne Stimmen sehr schön heraus (wie schön klingt hier beispielsweise die Oboe in 4 nach Ziffer 31). Vielleicht sind die schnellen Passagen, die tatsächlich sehr an Elgars Lesart erinnern („brillante“ Ziffer 17/56), hier und da nicht ganz so nuanciert, wie die Partitur es vorgibt, vielleicht stört den ein oder anderen Soltis (zu erwartende) Vorliebe für die kleine Trommel. Ich finde allerdings, dass Solti der zwischen Quirligkeit und Geheimnis changierende Satz indes grandios gelingt.

Der zweite Satz beginnt ungeheuer lastend, Solti lässt das Trauermarschmäßige sehr betonen (schreitende Unterstimmen Ziffer 67 – 68), um sich 4 vor 69 zu einer sehr großen Geste aufzuschwingen. Danach fängt die Lesart des Satzes an, mich weniger und weniger zu überzeugen. So wird schon das zweite Thema vergleichsweise lapidar vorgestellt, es kristallisiert sich keine Linie heraus, Solti verbleibt marschmäßig in der Vertikalen (man höre bspw. die sehr hölzernen Viertel bei Ziffer 73) und hat einen Hang, insgesamt zu laut spielen zu lassen, sodass es problematisch wird, den Höhepunkt aufzubauen und organisch zu entfalten. Die Klimax des Satzes (Ziffer 86) will Elgar in den Violinen fff und "molto espressivo" gespielt wissen, fordert sogar ein „glissez“. Solti indes spielt nur das fff und lässt die Streicher des LPO glasklar und glatt spielen, sodass die Emphase, die dieser Moment haben kann, durch eine brillante Kälte ersetzt wird, was mich persönlich überhaupt nicht überzeugt.

Das Rondo geht Solti sehr beschwingt an, sehr das Virtuose, den Lärm, den Knalleffekt betonend. Denkt man an den geradezu bösartigen Charakter, den dieser Satz bei Sargent entwickelt, so kann das zunächst eindimensional wirken. Tatsächlich steht das Grelle, das Solti hier herausarbeitet, dem Satz aber auch gut zu Gesicht. Überrascht bin ich immer wieder bei der „Maud“-Stelle, bei der ich mir bei Solti (im Hinterkopf schwirrt mir da die Brutalität im Kopf herum, die er in Mahler 6 entfesselt) ein deutlich höheres Maß an Gewaltsamkeit erwartet hatte. Tatsächlich reißt er sich nun gerade hier aber sehr zusammen.

Soltis Interpretation des Finales finde ich durchweg schwach. Da wird insgesamt zackig durchdirigiert, über weite Strecken ist mir das deutlich zu marschmäßig (man achte einmal darauf, wie zerstückelt Solti das erste Thema nach dessen Vorstellung artikulieren lässt) und zu sehr auf Virtuosität gedrillt. Um Ziffer 149 herum holt Solti nun doch kurz den Mahler-Dirigenten aus der Tasche und lässt es beim „con fuoco“ so recht krachen. Das macht schon etwas her. Überraschend ist schließlich, wie Solti es trotz dieses Durchmarsches ab Ziffer 170 schafft, vollkommen zurückzugehen und eine fast kammermusikalisch klingende, ganz lichte Verklärung zu zaubern. Das ist - vor allem, weil es den Hörer einigermaßen unvorbereitet trifft - schon sehr berührend.

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6) Swetlanow (11.04.1977, live: Großer Saal des Staatlichen Moskauer Konservatoriums), USSR Symphony Orchestra: 14:01 / 15:54 / 07:11 / 14:00

Mitten in einer Zeit, in der sich peu à peu eine neue Eiszeit zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR anbahnte, setzte Jewgeni Swetlanow zwei Kompositionen Edward Elgars auf das Programm eines seiner Konzerte mit dem Staatlichen Symphonieorchester der Sowjetunion, Werke eines Komponisten, der selbst im Westen oft als Komponist des Imperialismus begriffen wurde. Dieses Konzert ist auf CD gebannt und hat es immerhin in David Hurwitz’ berühmt-berüchtigte Kolumne „CD from Hell“ geschafft. Verdientermaßen?

Der erste Satz beginnt mit klassischer Swetlanow'scher Geste: ungestüm, unbehauen irgendwie roh, mit polterndem und vibrierendem russischen Blech. Drängend, fieberhaft rast der Satz dahin, den nur Elgar 1924/25 noch einen Tuck schneller spielen ließ. Auch das zweite Thema nimmt Swetlanow zügig, lässt es aber ganz leicht klingen. Dann geht es weiter. Das „Brillante“ (Ziffer 17 & Parallelstelle) klingt zwar geradezu hysterisch schnell, bei Swetlanow geht da aber auch noch mehr, lässt er doch im Folgenden (bis Ziffer 20) tatsächlich – Elgar schreibt es vor – deutlich accellerieren. So ganz richtig klingt das nicht mehr, eher etwas schrammelnd. Der „malign influence“ schleicht nun fast unmerklich hinein, es klingt zunächst nach einer sommernachtsartigen Zwielichtigkeit, nicht wirklich unheimlich. Ab 33 schlägt die Stimmung jedoch ins Geheimnisvolle, ins Bedrückende, ins Schauerliche um. Dann geht die wilde Jagd weiter, an Ziffer 40 geht es wahrlich einmal so vorbei, wie Elgar es notiert hat: „strepitoso“ (= lärmend). Danach steigert Swetlanow noch einmal das Tempo, bis er in den letzten drei Takten geradezu aus dem Satz hinausfliegt. Das ist zwar ein Höllenritt, aber durchaus hörenswert.

Der zweite Satz beginnt in tieftrauriger Stärke, schwer, „wie ein Kondukt“, wobei sich die schreitenden Viertel zwischen den Ziffern 67 und 68 nicht marschmäßig wie bei Solti, sondern ein wenig wie in Stokowskis Orchestrierung des Chopin'schen „Marche funèbre“ anhören: gedämpft grummelnd. Lastend, schwermütig und leider auch etwas zäh fließt es weiter, bis ich um Ziffer 70 herum, wenn das Orchester kurz aufblüht, denke: Nie war Elgar so sehr Tschaikowsky wie hier. Die Violinen vibrieren massiv, die Tränendrüse schwillt, man hört für einen unheimlichen Moment Elgars „Pathétique“. Eigenartig geht es weiter. Die Trompeten beginnen sich in den Vordergrund zu schieben, klingen um 76 schlicht scheußlich wabernd und quäkend (hier wird auch übersteuert), ich sehe vor meinem inneren Auge angeschlagene Blechbläser bei einem niedersächsischen Schützenfest vor mir. Später (Ziffer 86) blasen sie – obschon Piano notiert ist – alles andere in Grund und Boden. Der Satz endet in völliger Finsternis.


Der dritte Satz ist dann durch und durch spielerisch gezeichnet, man erlebt den Swetlanow ludens. Da hat der Satz nichts Doppelbödiges, alles klingt wie ein großes Klangspiel. Der vehemente Höhepunkt wird von Orchester und Dirigent fast vollkommen ignoriert, um Ziffer 129 versucht man sogar kurz diesem Satz ein prächtiges Gepränge zu geben. Eine eigenartige Lesart.

Die Irritation setzt sich während der Wiedergabe des Finales fort. Die gesamte Exposition dieses Satzes wird in einem breiten, erdverwachsenen Dauerlegato durchgespielt, Swetlanow ist anscheinend auf der Suche nach der „melodie lunghe lunghe, lunghe“ und versucht sie durch breites Pinseln herbeizuzaubern. Das Ergebnis klingt nicht nur sehr unorganisch, sondern gegen die Musik gespielt. Die Durchführung nimmt er dann – so kommt auch die knappe Gesamtspielszeit des Satzes zustande – sehr flott, dirigiert durch, sodass es um 153 herum in den Violinen schon ein wenig nach Galeerenmusik klingt.

Zusammenfassend würde ich nicht mit Hurwitz sagen, diese Aufnahme käme „from Hell“, aber sie macht meines Erachtens in jedem Fall eines: sie geht – vom ersten Satz einmal abgesehen – einigermaßen direkt an Elgar vorbei.

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7) Handley (1981), London Philharmonic Orchestra: 17:36 / 13.40 / 08:19 / 14:35


Vielen Hörern gilt Vernon Handleys Einspielung der zweiten Symphonie Elgars als einigermaßen großer Wurf. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Tatsächlich kann ich mit dieser Einspielung nicht sonderlich viel anfangen. Gerade wenn man sich mit vielen Einspielungen eines Werkes auseinandersetzt, so gewinnt man mE mit der Zeit ein gewisses Gefühl dafür, was man aus ihm herausholen kann. Sicher mag man sagen: Der Vergleich von Einspielungen ist überflüssig, wichtiger ist es, das große Ganze der einen Interpretation nachzuvollziehen. Ich meine: man kann beides. Und mein persönliches Ergebnis in diesem Falle ist, dass ich aus Handleys Aufnahme nicht schlau werde. Was für einen Elgar will er zeigen? Es ergibt sich für mich kein erkennbares und kohärentes Bild: Will Handley Elgar als breitflächigen „Nobilmente“-Töner oder als jenen nervös-agilen Komponisten vorstellen, den wir aus dessen eigenen Aufnahmen kennen?

Die Darstellung des ersten Satzes legt für mich Ersteres nahe. Da geht es sehr gewichtig los, die Musik klingt goldglänzend, ziemlich fettig, in meinen Ohren stark auf Wohlklang gebürstet, sehr repräsentativ mit einem üppigen Schuss Empire. Man höre einmal, mit welch selbstsicherer großer Geste Handley das Brillante bei Ziffer 17 spielen lässt. Das klingt nicht mehr nach Elgar, dem Autodidakten vom Land, das ist eindeutig Musik aus der geadelten Feder des „Sir Edward“. Überhaupt gibt es mE in Handleys Interpretation des Satzes nur Oberfläche und im Grunde keine Abgründe. Der „malign influence“ entbehrt in meinen Ohren jeden Geheimnisses, geschweige denn, dass sich jene Stimmung einstellt, die nur das englische Wort „eerie“ so richtig trifft. Stattdessen ist hier alles irgendwie „lush“. Die an Algernon Blackwoods Erzählungen erinnernde Stimmung, der kalte Atem, der einen im herbstlichen Garten erschauern lässt, weht nicht durch diesen Satz.

Der zweite Satz wiederum hat ein recht hohes Grundtempo. Tatsächlich macht es auf mich spontan den Eindruck, dass hier jenes Quantum an Fluss zuviel ist, das dem ersten Satz fehlt. Es klingt für mich, als wolle Handley hier unbedingt nicht so weitermachen, wie er begonnen hat und jene Larmoyanz, die man in diesen Satz durchaus hineinrühren kann (wenn man ihn denn so kandiert spielen lässt wie er selbst den ersten Satz), auf Teufel komm raus vermeiden. Das „Sehrende“, das Lastende, das Schwere, das nach meinem Dafürhalten diesem Satz seine eigentliche Bedeutung verleiht, wird versachlicht, was schließlich dazu führt, dass - in meinen Ohren - er auf einmal nicht mehr das Zentrum des Werkes darstellt, sondern nur noch eine vollkommen nebensächliche Rolle spielt. Blickt man in die Partitur, so läuft das gesamte Geschehen auf Ziffer 89 zu, an der es heißt: „molto espressivo“. Lesen kann ich das an dieser Stelle, hören nicht.

Auch der dritte Satz klingt in meinen Ohren eher harmlos, wieder gut klingend, stets spielerisch und ohne doppelten Boden, insgesamt recht laut, sodass die dynamischen Kontraste etwas verwischen. Sehr eindrucksvoll ist dann der orchestrale Höhepunkt (Maud), an dem das Schlagwerk wirklich einmal für den Untergang des Restorchesters sorgt. Aber das fratzenhaft Grelle Soltis oder die Brutalität Sargents werden nicht erreicht. Das ist zwar laut, ich frage mich aber: Warum eigentlich?

Das Finale kommt einigermaßen betulich daher, wieder mit jenem massigen Ton, dessen sich Handley auch schon im ersten Satz bedient. Hier spricht durchweg wieder „Sir Edward“, alles gleißt und glitzert, ich bin versucht zu denken: „Ende gut, alles gut.“ Aber was ich von dieser Interpretation halten soll, weiß ich immer noch nicht. Glücklich macht sie mich allerdings nicht, ein echtes Plädoyer für das Werk ist sie in meinen Ohren auch nicht. Im Vergleich würde ich sagen, dass es deutlich faszinierendere Einspielungen gibt.

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8) Sinopoli (1987), Philharmonia Orchestra: 20:43 / 18:25 / 09:00 / 17:14

Eines der schönsten Gedichte Rainer Maria Rilkes endet mit den Worten „… und Anfang glänzt / An allen Bruchstelln unseres Mißlingens.“

Immer wenn ich Giuseppe Sinopolis Aufnahme der zweiten Symphonie Elgars höre, denke ich an diese Zeilen. Es ist ein großartiges Scheitern, das Sinopoli hier hinlegt, eine die Elgar-Gemeinde vollkommen polarisierende Aufnahme, vergleichbar vielleicht mit Bernsteins später Aufnahme der sechsten Symphonie Tschaikowskys. An Bewertungen findet sich die komplette Skala von „[a] lumbering performance that turns the composer’s finely accented textures into a thick purée“ (Victor Carr Jr auf „ClassicsToday“) bis zu „fascinating and typically idiosycratic“ (William Hedley auf „musicweb-international“).

Ich selber finde, dass diese Einspielung in zweierlei Hinsicht einen Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte Elgars darstellt, denn zum einen verweigert sich Sinopoli vollkommen der Aufführungstradition, indem er keinen glatt gebügelten Elgar zum Wohlfühlen präsentiert; zum anderen macht Sinopoli mE den bis dahin nicht und seit dem nicht mehr gewagten Versuch, Elgar an das musikhistorische Umfeld anzuschließen. Es ist nicht nur ein Experiment, das der Hörer hier staunend (und vielleicht auch zunächst kopfschüttelnd) beobachten kann, es ist mE das Ergebnis einer höchst persönlichen Begegnung mit einem Komponisten am Ende des Fin de siècle, das Sinopoli hier vorstellt. Um zu Rilke zurückzukommen: indem es misslingt, eine am Mainstream orientierte Elgar-Aufnahme herzustellen, so gelingt doch eine Sinopoli-Bearbeitung der Symphonie Elgars, die den Anfang eines anderen Elgar-Verständnisses ermöglicht.

Der erste Satz beginnt nicht, wie es Elgar vorschreibt. „Allegro vivace“ ist das nach meinem Gefühl eher nicht – „e nobilmente“ schon eher. Überhaupt ist dies ein Kennzeichen dieser Aufnahme: das insgesamt langsame Tempo. Nicht dass Sinopoli es nicht schneller gekonnt hätte. Sämtliche seiner anderen Elgar-Aufnahmen sind immer zügig, wo Elgar es notiert, und zeichnen sich eben gerade nicht durch sonderlich langsame Tempi aus. Hier ist das vollkommen anders, was mich zu der Vermutung führt, dass Sinopoli die Tempodisposition eben gerade so anlegt, weil er etwas damit zeigen will, wobei ich meine Vermutung hierzu schon oben mitgeteilt habe. Doch ich schweife ab.
Sinopoli wählt für den ersten Satz also ein weniger lebhaftes, denn vielmehr ruhig fließendes Tempo, das diesem sofort einen gewichtigen, schweren, aber nicht schwerfälligen Charakter verleiht. Ich sehe vor meinem inneren Auge die stolze – zum Kompositionszeitpunkt im Übrigen im Bau befindliche – Titanic, die selbstbewusst als Glanzstück der englischen Flotte die Wellen des Ozeans durchkreuzt. Herrlich gelassen und mit ausgesuchter Süße wird das zweite Thema vorgestellt. Ab Ziffer 11 drosselt Sinopoli das Tempo ganz ungeheuer. Mehr „dolce e delicato“ geht nicht. Kommt da das italienische Temperament zum Zuge? Zum „Brillante“ bei Ziffer 17 wird wiederum so weit ausgeholt, dass Handleys „große Geste“ (s.o.) dagegen geradezu schmalbrüstig wirkt. In den letzten Takten vor 22 drosselt Sinopoli erneut das Tempo (überhaupt bedient er sich kräftig am Rubato). Auf einmal habe ich das Gefühl, ich säße in einer Oper, Puccini vielleicht. Auch der sich anschließende Beginn der Durchführung klingt wie Bühnenmusik, da gibt es Zählzeit für Zählzeit Geheimnisvolles zu erlauschen. Das Zwischenspiel („malign influence“, Ziffern 28-30) wird bei Sinopoli zu einem Klangzauber, randvoll mit jener morbiden Grandezza, in die sich die alte Welt kleidete, bevor sie wenige Jahre später im Ersten Weltkrieg unterging. Der Hörer mag beim Hören spüren: Hier ist bald ein Ende erreicht. Doch noch nicht ganz. Auch wenn die Coda zunächst etwas müde in Gang kommt, sie kommt in Gang. Die Titanic kreuzt noch einmal den Ozean als des Empires stolzestes Schiff. Doch wohin geht die Reise?

Auch den zweiten Satz nimmt Sinopoli deutlich breiter als üblich. Er beginnt sehr lastend, mit ausgesprochen düsteren Trompeten, sehr schweren Vierteln in den tiefen Streichern und den tiefen Holzbläsern, die Schläge der Gran Cassa klingen schicksalsschwer. Das wirkt auf mich nicht mehr wie der Klagegesang auf einen König oder auf verlorene Freunde, das klingt viel existenzieller. Wenn in 68 die ersten Violinen anheben, so geht mir die erste Zeile aus Schillers „Nänie“ durch den Kopf. Stirbt hier die Schönheit? Ist das Elgars Klage über seine verlorene Zeit, seine im Untergang befindliche Epoche?
Das von den ersten Violinen vorgetragene Thema (Ziffer 71) klingt in Sinopolis Lesart eher wie Mahler, vielleicht weil er es nahe am Rande des Auseinanderfallens spielen lässt. Ab 74 (Streicheraufschwung vor Triolen im Rest des Orchesters) schickt sich Sinopoli an, mit der Sicherheit des hervorragenden Bruckner-Dirigenten den ersten Höhepunkt des Satzes aufzubauen, was wirklich eine kolossale Wirkung zeitigt. Was für ein Ausbruch bei 76 mit anschließendem Ersterben! Höchst berührend auch die Oboenklage ab 79, herzzerreißender Einsatz der Violinen dann bei 80. Der zweite Höhepunkt wird analog zum ersten angegangen, bloß dass es Sinopoli schafft, bei Ziffer 86 tatsächlich noch eine Schippe mehr draufzulegen und das „molto espressivo“ wirklich als ein solches spielen zu lassen. Den Schluss des Satzes gestaltet Sinopoli als ein langes, langsames Verbleichen, ein Verdämmern, ein mahlereskes „Morendo“ – wobei hier kein „Ewig, ewig“ klingt, sondern Düsternis, Hoffnungslosigkeit, Endgültigkeit.

Das Rondo beginnt heiter, wobei diese Heiterkeit schnell abnimmt und mE einer grundsätzlichen Zwielichtigkeit, einer gefährlichen Unbestimmtheit weicht. Schon das wuchtige Streicherunisono bei Ziffer 93 lässt nichts Gutes ahnen, die Oboe bei 96 klingt auch sehr undurchsichtig. Sinopoli kostet die sich nun anschließende Passage in ihrer Koboldhaftigkeit mich vollkommen überzeugend aus, um dann in eine Vehemenz überzugehen, die den Satz streckenweise wie die „Rondo-Burleske“ aus Mahlers Neunter klingen lässt. Der Höhepunkt im Zentrum des Satzes ist bei Sinopoli keine Spielwiese für das Schlagwerk, sondern wird eher von den massiv auftrumpfenden Blechbläsern dominiert. Anschließend macht sich eine Stimmung der Hektik und Unübersichtlichkeit breit. Sinopoli lässt die Musik losrasen, ohne dass man noch das Gefühl einer Richtung hat. Plötzlich (bei Ziffer 134) wird es immens grell, das klingt sehr nach Fratze und die wilde Jagd ist zu Ende.

Das Finale beginnt durchaus konventionell. Sinopoli lässt das erste Thema mit edlem Gestus spielen, bei der Wiederholung rückt er die Hörner schön nach vorne. Auch das zweite Thema wird sehr repräsentativ gespielt, der Aufbau hin zum „Nobilmente“ (Ziffer 142) und der herrlichen punktierten Figur in den Violinen (6 nach 143) gelingt geradezu mustergültig. Was Sinopoli aber gleichzeitig deutlich herausstreicht ist die schon fast übertriebene Knalligkeit dieses Pomps. Das klingt sehr nach Übertreibung zum Verscheuchen jener Zweifel, die in den ersten Sätzen mE zum Ausdruck kommen, ja es klingt für mich, als wolle Sinopoli zeigen, dass dieses Finale ein verzweifelter Versuch des Komponisten ist, sich seiner selbst und seiner Zeit zu versichern. Der in der Durchführung aufkommende kämpferische Ton, das Gegeneinanderkrachen der Themen und Motive erscheint in Sinopolis Darstellung wie ein deutlicher Hinweis darauf, dass diese Musik auf einen Kataklysmus zusteuert. Spätestens bei der „Galeerenmusik“ um Ziffer 154 herum scheint ein tragisches Ende sicher. Doch diese Reprise, die Sinopoli mit einem geradezu unerhörten Ritardando verbindet, reißt den Satz noch einmal herum, bevor die Coda jenes verklärende Erlöschen bringt, welches der langsame Satz verweigert hat.

Was für eine Interpretation!

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9) Oramo (2011), Royal Stockholm Philharmonic Orchestra: 17:33 / 14:00 / 07:36 / 15:02

Seit Jewgeni Swetlanows Live-Aufnahme der zweiten Symphonie Elgars vom 11.4.1979, die es in die Liste „CDs from Hell“ des renommierten amerikanischen Kritikers David Hurwitz geschafft hat, hat es keine Einspielung des Werkes mehr gegeben, bei der nicht entweder der Dirigent oder das Orchester aus Großbritannien oder zumindest der englischsprachigen Welt stammte.

Tatsächlich muss man noch immer, wenn man einen Blick auf die Diskographie des Elgar'schen Œuvres wirft, den Eindruck gewinnen, Elgars Musik sei eine vornehmlich britische Angelegenheit. Selten tauchen Namen kontinentaler Spitzenorchester auf. Sicher, man findet die Staatskapelle Dresden (mit der der kürzlich verstorbene Sir Colin Davis eine meines Erachtens überragende Einspielung der ersten Symphonie vorgelegt hat), das SWF Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (unter Sir Roger Norrington) und die Wiener Philharmoniker (mit den „Enigma-Variations“) unter Sir John Eliot Gardiners Leitung. Die Staatskapelle Berlin hat erst vor wenigen Wochen ihr diskographisches Elgar-Debut mit dem von Alisa Weilerstein und Daniel Barenboim interpretierten „Cellokonzert“ gegeben. Doch seien wir ehrlich: Viel ist das nicht.

Jetzt ist aber beim schwedischen Label BIS eine Aufnahme der zweiten Symphonie Elgars herausgekommen, sodass die internationale Dürrephase dieses Werk betreffend nun endet. Der gebürtige Finne Sakari Oramo, der 10 Jahre lang das City of Birmingham Symphony Orchestra leitete, ab diesem Jahr die entsprechende Position beim BBC Symphony Orchestra bekleidet, Träger der Elgar-Medaille und Mitglied des OBE ist, hat nun Elgars Zweite nach Schweden gebracht und mit einem der vorzüglichsten Orchester Skandinaviens, dem Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, eingespielt. Zunächst war ich begeistert. Mittlerweile hat sich meine Begeisterung etwas gelegt, und zwar nicht so sehr, weil es doch keine gute Aufnahme ist, sondern weil sie im Vergleich zu dem, was andere Exegeten des Werkes hier an Interpretation geleistet haben, nicht so recht überzeugt.

Betrachtet man den ersten Satz, so kann man zunächst einmal bestaunen, wie selbstverständlich Oramo zur Sache kommt. Das ist ein forscher Beginn, lebensbejahend, mit Verve, ganz natürlich, nicht im Entferntesten hektisch, nervös oder aufgeregt. Hinzu kommt der hervorragende Klang der Aufnahme, die die Mittelstimmen gut hervorholt, selten hört man Holz- und Blechbläser so präzise wie hier. Auch lässt mich der Klang des Royal Stockholm Philharmonic Orchestra aufhorchen. Das tönt schon anders als britische Orchester, die bei Elgar gern sattesten Streicherklang präsentieren. Hier klingt das alles sehr viel schlanker, leichter, lichter. Dazu achtet Oramo sehr genau auf Differenzierung. Da kann man fast jeden von Elgar penibelst notierten Hinweis zur Artikulation hören. Oramo gestaltet nicht mit breitem, technicolorgetränktem spätromantischem Pinsel, sondern legt seine Interpretation – so hat es für mich zumindest den Anschein – deutlich klassischer als üblich an. Wo sich sonst der ein oder andere Dirigent in Nobilmenteseligkeit suhlt, da gibt es hier viel häufiger Biss und Griffigkeit. Wenn Sinopoli Elgar mit Blick auf Bruckner und Mahler darstellt, so blickt mir in dieser Aufnahme eher Brahms, vielmehr noch Mendelssohn entgegen.
Tatsächlich wirkt Oramos Lesart des ersten Satzes wie eine potenzierte Musik zum „Sommernachtstraum“. Der Beginn der Durchführung klingt wie ein hochromantisches Notturno: geheimnisvoll, aber nicht gefährlich. Auch wenn der „malign influence“ auftaucht, den Alice Elgar nicht umsonst als „Ghost“ bezeichnet hat (Ziffer 28), dann ist da nichts Unheimliches, sondern erneut „nur“ etwas Geheimnisvolles. Mir begegnet an dieser Stelle weniger ein böser Geist als vielmehr ein Faun in einem smaragdgrünen Wald. Um Zwielicht und Doppelbödigkeit geht es Oramo mE nicht.

Der Beginn des zweiten Satzes hört sich fast an, als hätte Sibelius bei der Komposition seine Hand im Spiel gehabt. Oramo lässt die ersten Takte licht und kühl spielen, mit deutlich zurückgenommener Leidenschaft. Das Blechbläsermotiv (67 ff.) klingt wie aus weiter Ferne, tatsächlich wirkt der Satz hier auf mich wie ein Heldengedicht in goldgelben Klängen, mir gehen beim Hören die Worte „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit…“ durch den Kopf. Es entwickelt sich in Folge etwas vollkommen anderes als beispielsweise bei Boult (1944) oder bei Sinopoli (1987). Die Tragik, die diesem Satz innewohnt, ist hier nicht gegenwärtig, sie wirkt auf mich vielmehr wie die Tragik vergangener Tage. Insofern kommt es auch nicht zu großen Spannungszuständen, was wiederum dazu führt, dass die Höhepunkte des Satzes (Aufbau ab Ziffer 74 bis Klimax in 76 ff), im Grunde keine kathartische Wirkung haben, und zwar weil éleos und phóbos nicht durchlebt werden, sondern nur von ihnen erzählt wird.

Der dritte Satz greift jene Leichtigkeit auf, die schon den ersten Satz prägte. Da erlebe ich eine sehr agile Wiedergabe, spielfreudig, ohne Ecken und Kanten, viel Gas, viel Mummenschanz. Tatsächlich eröffnet der Satz – wird er so gespielt – schon sehr deutlich den Blick auf Elgars orchestrales Meisterstück „Falstaff“. Der Höhepunkt des Satzes, die berühmte „Maud“-Sequenz, fügt sich in den spielerischen Ansatz nahtlos ein, sie wirkt auf mich glänzend, virtuos, packend, saftig und ohne jegliche Bedeutung. Wenn ich da an Sargent (1964) denke…

Das Finale rundet das von Oramo gezeichnet Bild ab. Der Satz beginnt beschwingt, die Holzbläser werden bei der Vorstellung des ersten Themas ausnahmsweise einmal nicht von den Celli überlagert, die Durchführung nimmt Oramo recht zügig, sodass der spielerische Charakter, den schon das Scherzo hatte, hier seine logische Fortsetzung findet. Insgesamt gibt es mE auch hier nur wenig, an dem man sich reiben könnte. Tatsächlich wirkt der Satz auf mich bestens herausgeputzt, sandgestrahlt, ohne Stellen, die zum Nachdenken anregen. Und so macht es mir durchaus Spaß, dem glänzenden Spiel zuzuhören, ganz besonders wenn 8 nach Ziffer 165 die Orgel festlichst hinzutritt (Elgar hatte diese optional hinzugefügt) und dann so recht die Wand wackelt. Aber gleichzeitig bleibt auch nichts hängen.

Zusammenfassend kann ich für mich sagen, dass es sich bei Oramos Lesart des Werkes um eine durchaus ungewöhnliche handelt, die in ihrer durchgängigen Leichtigkeit schon einzigartig ist und zudem noch hervorragend klingt. Es mag an mir liegen, dass mir seine Sicht auf das Werk am Ende weniger gibt als manch andere Interpretation.