Am 23. Juli 1906 findet sich in dem Tagebuch von Lady Alice Elgar folgende Eintragung: „E.[dward] hat tatsächlich die Komposition seines wunderschönen Werkes abgeschlossen. Große Dankbarkeit […].“ (zit. n. Jerrold Northrop Moore. Edward Elgar: a Creative Life. Oxford 1984. S. 503. Im Weiteren: JNM)

Der hier notierte Stoßseufzer Lady Elgars hatte durchaus seine Berechtigung, denn die Entstehung von „The Kingdom“ war eine langwieriges und hatte Elgar bis an den Rand seiner psychischen und physischen Leistungsfähigkeit gebracht. Die Gründe dafür sind vielfältig und lassen sich nur im Zusammenhang mit der Komposition des zwischen 1901 und 1903 entstandenen Oratoriums „The Apostles“ erklären, zu dem „The Kingdom“ inhaltlich und auch musikalisch gehört. Mehr dazu erfahren Sie HIER.

Elgar machte sich trotz der Schwierigkeiten, die ihm die Komposition von „The Apostles“ gemacht hatte, Novello wieder Aussichten auf eine Vervollständigung der ursprünglich angedachten Oratorien-Trilogie: „Meine Ideen kehren nun zu dem kolossalen Plan zurück, den ich vor Jahren entworfen hatte - obwohl ich nicht weiß, ob ich lange genug lebe, um ihn umzusetzen.“ (zit. n. Foster, S. 28) Eine vollmundige Versprechung auf die im Grunde nichts folgte.

Das heraufziehende Jahr 1904 sollte Elgars „annus mirabilis“ werden: es gab ein „Elgar Festival“ im Covent Garden, er stand auf bestem Fuß mit King Edward VII, man nahm ihn in den exklusiven Athenaeum Club auf, im In- und Ausland bedachte man ihn mit allerhand Ehrungen und als Krönung wurde er in den Adelsstand erhoben. Da blieb kaum Zeit zum Komponieren. Hier und da zeigen die Quellen, dass er sich ab und zu gedanklich kurz mit der Fortsetzung zu „The Apostles“ beschäftigte, sich aber nicht an die Arbeit machte. Tatsächlich reagierte er zunehmend gereizt, wenn man ihn darauf ansprach, ob und wie die Arbeit voranginge.

Ohnehin war Elgars Stimmung im Jahre 1905, das sich über weite Strecken als „annus horriblis“ entpuppte (das Introduction & Allegro fiel durch, die Professur und Vorlesungsreihe in Birmingham gestaltete sich als Fiasko, die als grauenvoll empfundene USA-Reise, öffentliche Verpflichtungen wurden vom Komponisten zunehmend als erdrückend empfunden), ausgesprochen schlecht. Erst Ende des Jahres wandte er sich erneut der Komposition zu. Doch ging es nicht gut voran, obwohl Elgar auf allerhand Material zurückgreifen konnte, das er schon für „The Apostles“ komponiert hatte. Erste Teile gingen im Januar 1906 an Alfred Littledon von Novello: „By this post I send the first scrap oft he new work – title to be considered: it should be ‚The Kingdom of God‘. This portion is only the introduction but the rest shd follow soon: […].“ (zit. N. JNM, 482) Littleton gefällt der Titel nicht so recht, später einigt man sich auf „The Kingdom.“

Doch die Komposition des Werkes scheint für Elgar eine Qual zu sein. Tatsächlich lassen die Tagebucheinträge von Lady Elgar darauf schließen, dass sich der Komponist nicht nur in einem Motivationsloch, sondern in einer ausgewachsenen depressiven Episode befindet: „E. geht es nicht gut & er ist sehr deprimiert. Er wendet sich gegen sein Werk.“ (16.01.1906); „E. fühlt sich sehr schlecht. Veränderte & korrigierte die Szene der Wahl des Matthias. A. […] brachte sie auf die Post. Gegen 17:00 Uhr kam Dr. East und bis zum Zug um 20:10 Uhr. Elgar geht es nicht gut & er denkt, dass er sein Werk nicht fertigstellen kann. Dr. East sprach mit ihm & beriet ihn. Sehr schlechte Nacht. (29.01.1906) Elgar beschloss, die Arbeit an „The Kingdom“ unmittelbar zu beenden. Doch hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, denn nun nahm Alice die Sache in die Hand.

Am 01.02.1906 traf sie sich mit Alfred Littleton und stellte klar, dass Elgar nur die Hälfte des versprochenen Konzeptes von „The Kingdom“, das ursprünglich die Ereignisse bis zur Kirchengründgung in Antiochia umsetzen sollte, liefern könnte. Littleton akzeptierte. Sie entschieden, den Status quo dem Birmingham Festival Committee mitzuteilen und die Reaktion abzuwarten. Unterdessen ändert sich an Elgars Zustand nichts. Am 12.02.1906 schreibt Alice in ihr Tagebuch: „E. immer noch in schlechtem Zustand & der Meinung, dass er sein Werk aufgeben muss.“ Wenige Tage später ist klar: das Birmingham Festival Committee akzeptiert das verkürzte Konzept, wobei Elgar das auch nicht glücklich macht. An Littleton schrieb er: „Ich hätte es bevozugt, es nicht zu machen, doch es scheint der einzige Weg zu sein, die Dinge für alle so angenehm wie möglich zu machen & so nehme ich denn an, dass es gemacht werden muss.“ Elgar arbeitet langsam weiter. Während einer Konzertreise in die USA orchestriert er das vorhandene Material, im Juni ist arbeitete er intensiv weiter. Schließlich konnte er am 21.07.1906 an Jaeger schreiben: „Ich bin gerade bei der letzten Durchsicht meiner Notizen und Skizzen. Das Ganze ist absichtsvoll weniger mystisch als die A[postel]: die Männer leben & arbeiten und die Atmosphäre soll darum direkter und einfacher sein.“ (zit. n. Kennedy, S. 167)

Ende August 1906 schließlich beendete er die Arbeit an der Partitur. Am 03.10.1906 wurde das Werk beim Birmingham Triannial Festival uraufgeführt.

Das geplante dritte Oratorium hat Elgar nie komponiert.

(c) Wolfgang-Armin Rittmeier