Symphonie Nr. 1 As-Dur, op. 55



Entstehung

Am 2. Juni 1907 wurde Edward Elgar 50 Jahre alt. Und noch immer hatte er keine Symphonie vorgelegt, eine Symphonie, auf die man ebenso wartete, wie auf das dritte, seinen Zyklus über das Wirken der Apostel abschließende Oratorium.

Doch es passierte nichts.

Stattdessen vervollständigte Sir Edward den vierten "Pomp and Circumstance"-Marsch und beschäftigte sich mit kleinen Melodien und Stücken, die er einst als Kind komponiert hatte, und die er nun ausweitete, orchestrierte und als vermeintliche Opera 1a und 1b unter dem Titel „The Wand of Youth“ in zwei Suiten vorstellte.

„E. viel Musik. Spielte eine großartige schöne Melodie", schreibt Edwards Frau Alice am 27. Juni in ihr Tagebuch, doch folgt diesem Eintrag nichts. Kein Hinweis darauf, ob und – wenn ja – in welchem Zusammenhang diese große schöne Melodie steht, kein Hinweis darauf, was Elgar mit ihr anfängt oder anfangen will. Überhaupt scheint das Komponieren im Sommer und Frühherbst des Jahres 1907 keine zentrale Rolle eingenommen zu haben. Vielmehr ist Elgar in Großbritannien unterwegs, um in Cardiff, Gloucester, Hanley und Leeds sein Oratorium "The Apostles" zu dirigieren. Im Oktober trifft er seinen Freund Hans Richter in Birmingham, der erneut darauf drängt, Elgar möge doch endlich eine Symphonie komponieren. Und Elgar? Elgar beginnt die Komposition – eines Streichquartettes.

Im November reisen die Elgars in wärmere Gefilde. Sie wollen in Rom, das sie am 7. November erreichen, den Winter verbringen. "Die ernsthafte Arbeit wartet auf Rom",hatte Elgar bereits im September an Kanonikus Charles Vincent Gorton, einen Musikenthusiasten aus Manchester, geschrieben. Dies wirft die Frage auf, was mit dieser „ernsthaften Arbeit“ gemeint gewesen sein könnte. Das Streichquartett kann es kaum gewesen sein, Elgar begann es erst nach dieser Äußerung im Oktober. Auch das von vielen ersehnte dritte Oratorium der "Apostles"-Reihe wird nicht gemeint gewesen sein, denn aus Rom schreibt Elgar am 3. Dezember an Alfred Littleton, den Besitzer des Verlagshauses Novello, er möge „absolut und endgültig die Idee aufgeben“, dass dieses Oratorium komponiert werden würde. Und doch ist klar, was die „ernsthafte Arbeit“ ist. Elgar beginnt an eben jenem Tag die Komposition seiner ersten Symphonie.

Doch die Arbeit geht nicht gut voran. Schon vor November hatte Elgar seinem Verlagshaus zugesagt, er werde einige Part-Songs abliefern, wobei ihn nicht nur das Versprechen an Novello band, sondern auch der Umstand, dass er mit derlei Kompositionen schnell Geld verdienen konnte. An seinen Freund, den Kunstmäzen Frank Schuster, schreibt er frustriert:

„Ich versuche Musik zu schreiben, doch das Bittere ist, dass sie mir nicht genug einbringt, sodass ich – obwohl sich meine Seele dagegen sträubt – andere Musik komponieren und arrangieren muss, anstatt das zu komponieren, was Du und ich wollen. Ich verfluche die Kraft, die mir diese Gaben schenkte und verabscheue diese Begabung für jetzt und immer.“ (vgl. Kennedy, 108)

Bis zum Jahresende arbeitet Elgar sporadisch weiter an der Symphonie. Dann jedoch werfen ihn der Tod seines alten Freundes Will Grafton und eine Grippe-Erkrankung derart aus der Bahn, dass der kreative Strom versiegt. Im Mai 1908 kehren die Elgars nach England zurück, ohne dass weiter von der Symphonie die Rede gewesen wäre.

Am 15. Juni 1908 jedoch schreibt Alice an Jaeger: „E. sendet die besten Grüße & möchte Dir ausrichten, dass ‚die Sym. 1+ ist’. Sie ist wundervoll, durchdrungen von Schönheit.“

Ab nun geht es Schlag auf Schlag:

„E. schrieb den gesamten Tag wie besessen an seiner Symphonie.“ (Alice, 29.06.)

„Ich fülle Seiten ohne Ende.“ (Elgar an Walford Davis, 15.07.)

„Komm doch vorbei. Ich komponiere himmlische Musik (!) & es wird Dir gut tun, sie zu hören.“ (Elgar an Troyte Griffith, 19.07.)

Am 25. September kann man in Alices Tagebuch lesen: „E. sehr kränklich (‚badsley’). Den ganzen Tag im Bett. Abends Dr. Collens.“ Elgar hatte an jenem Tag die Arbeit an der Symphonie beendet und wurde – wie fast nach jedem Abschluss einer Komposition – krank.

Die Symphonie sollte am 3. Dezember in Manchester mit dem Hallé Orchestra unter der Leitung von Hans Richter, der ja schon die Uraufführungen der "Enigma Variations" und des "Dream of Gerontius" geleitet hatte, dem Publikum vorgestellt werden. Am 2. Dezember wird Elgar unruhig: „E. erst beschäftigt & anscheinend guter Dinge, gegen Abend jedoch recht schlechter Stimmung (‚porsley’). Habe Befürchtungen für den morgigen Tag.“ Am nächsten Tag dann: „E. & A. nahmen den 10.45 Uhr Zug nach Manchester. E. ausgesprochen schlechter Stimmung; bis zur letzten Minute überlegt, ob er fahren soll.“

Doch die Befürchtungen Elgars erweisen sich als unbegründet. Die Uraufführung ist ein voller Erfolg, für die Daily Mail war dies „The Musical Event of the Year“ und man konnte lesen: „Es ist vollkommen eindeutig, dass wir es hier mit dem größten Meisterwerk seiner Art zu tun haben, welches je aus der Feder eines englischen Komponisten geflossen ist.“ Alice konnte vermerken: „Nach dem dritten Satz musste E. auf das Podium gehen & das gesamte Orchester & eine große Menge des Publikums erhoben sich. Wundervolle Szene. Gleiches auch am Ende.“

Von Manchester geht es nach London, wo Richter die am Nikolaustag stattfindende Probe mit dem London Symphony Orchestra mit den berühmt gewordenen Worten beginnt: „Meine Herren, lassen sie uns nun die größte Symphonie der Gegenwart proben, geschrieben vom größten lebenden Komponisten - und zwar nicht nur dieses Landes.“ Am 7. Dezember kommt es also zur Londoner Erstaufführung, die ein Triumph für Elgar wird. Jaeger berichtet:

„Ich habe noch nie etwas dergleichen gesehen. Der Saal war voll bis auf den letzten Platz. Viele Musiker waren anwesend. Ich sah Parry, Stanford. E. German, F. Coder, E. Faning, P. Pitt, E. Kreutz etc. Die Atmosphäre war wie elektrisch geladen...Nach dem ersten Satz rief man E. E. auf die Bühne; nochmals – und dann auch noch mehrere Male – nach dem dritten. Dann kam der große Moment. Nach der superben Coda (Finale) sprang das Publikum sofort auf, als sich Elgar zeigte. Ich habe nach keiner Uraufführung jemals einen solch fanatischen Beifall und einen derartigen Jubel gehört. Er musste fünf Mal auf das Podium, bis sie sich beruhigten. Die Leute standen nicht nur auf, sie standen zum Teil auch auf den Sitzen, um ihn zu sehen.“

Der Erfolg war da und die Symphonie machte Karriere. Im Folgejahr gab es allein in London 17 Folgeaufführungen. Aber auch das Ausland nahm die Symphonie begeistert auf. Es kam zu Aufführungen in New York, Chicago, Boston, Toronto, Sydney, Wien, St. Petersburg, Bonn, Berlin und Leipzig. Arthur Nikisch, der die Aufführung im Leipziger Gewandhaus leitete, war so beeindruckt, dass er in einer Pressenotiz verlauten ließ:

„Ich halte Elgars Symphonie für ein Meisterwerk ersten Ranges, das bald in einem Zuge mit den großen symphonischen Modellen von Beethoven und Brahms genannt werden wird. Als Brahms seine erste Symphonie komponiert hatte, wurde sie ‚Beethovens Zehnte’ genannt, weil sie der Tradition der neun großen Meisterwerke Beethovens folgte. Aus eben diesem Grunde nenne ich Elgars Symphonie ‚Brahms’ Fünfte’. Ich hoffe darauf, sie im kommenden Oktober in Berlin mit meinem dortigen Philharmonischen Orchester vorstellen zu können.“

Erfolg hin, Jubel her: Elgar fiel kurz darauf – wie eigentlich immer – in ein emotionales Loch, war deprimiert, unzufrieden mit dem finanziellen Rücklauf und bisweilen sogar ganz und gar giftig. So schreibt Alice in ihr Tagebuch: „Very depressed, not caring for music“ und Elgar verschickt zum Weihnachtsfest unweihnachtliche Grüße, beispielsweise an Frank Schusters Schwester Adele:

„Es enttäuscht mich noch immer, dass Du die Symphonie noch nicht gehört hast. Sie macht eine wilde Karriere & ich erhalte haufenweise Briefe von mir bekannten und unbekannten Leuten, die mir sagen, wie sehr sie sie erbaut. Ich wünschte, sie wäre auch für mich erbaulich. Gerade habe ich Miete, Grundsteuer, Einkommenssteuer bezahlt & eine Reihe weiterer Verpflichtungen ist heute fällig & an der Tür stehen Kinder, die ‚Christians awake! Salute the Happy Morn!’ kläffen und etwas dafür wollen. Ich grüßte den Morgen so um sieben Uhr, es war noch recht dunkel, machte ein Feuer in der Arche [= Elgars Labor in seinem Haus in Plas Gwyn] & dachte über die Zukunft der sehr starken Erkältung nach, die ich mir zugezogen hatte & wie weit sich ein Weihnachtslied wohl von seiner Tonart entfernen kann, um doch immer noch ein Weihnachtslied zu sein. Bitte löse mir dieses Rätsel.“

Am gleichen Tag schreibt er an Alice Stuart-Wortley: „Ich bin im Haus und langweile mich mit meiner Erkältung, was für mich ausgesprochen deprimierend ist & ich habe die Absicht, dass sich alle hier genau so fühlen sollen – das gibt doch eine schöne weihnachtliche Stimmung.“

 

Musik

Im Folgenden orientiere ich mich in Grundzügen an der Interpretation Jerrold Northrop Moores (s. ausführlich: Moore, Jerrold Northrop: Edward Elgar. A Creative Life. Oxford 1987).

Elgars erste Symphonie hat vier Sätze mit den folgenden Bezeichnungen:

1. Andante: Nobilmente e semplice – Allegro – Poco meno mosso – Poco più mosso – Tempo I – Poco animato – Grandioso (Tempo I) – Meno mosso – Poco più mosso – Tempo I – Poco meno mosso – in tempo

2. Allegro molto – attaca

3. Adagio – Molto espressivo e sostenuto

4. Lento – Allegro – Grandioso (poco largamente)

Der erste Satz beginnt mit einem Motto-Thema in As-Dur, das – wie nicht selten bei Elgar – auf einem älteren Thema fußt. Hier sind es die finalen Töne der Coda der „Enigma-Variationen“, die als thematische Tonfolge genutzt werden. Das sich hieraus entwickelnde Haupptthema ist nach Elgars Vorstellung "ideal":

„Das Eröffnungsthema soll einfach und – mit voller Absicht - nobel & erhebend sein...so in der Art eines idealen Rufes (im Sinne der Verführung, nicht als Zwang oder Befehl) & von etwas, das über dem Alltäglichen und Gemeinen steht.“

Nach der Vorstellung des Mottos setzt im sehr entfernten d-Moll (Tritonus) das energische Allegro stark kontrastierend ein. Dazu Moore:

„Es ist, als ob die über so lange Jahre angestaute Energie des Versuches, eine Symphonie zu komponieren, hier ihre Ketten sprengt: Doch das eingesperrte Ding – anstatt Freude an seiner Befreiung zu finden – zeigt tiefe Narben des Kampfes mit bitterer Verwirrung.“

Tatsächlich eröffnet sich so etwas wie ein „Kampf“ zwischen der idealen, rhythmisch in sich ruhenden diatonischen Melodie und einer starken, ungewohnten Rhythmik und chromatischer Melodieführung. Moore sieht hierin die Gegenüberstellung von musikalischer Tradition und den sich immer dringlicher anbahnenden Strömungen der Moderne:

„Im Jahre 1907 war es völlig klar, dass traditionelle diatonische Ideale anhand chromatischer Fragestellungen überprüft werden mussten. Edward erlebte, wie die Chromatik die diatonische Musik in Europa verdrängte. Mittlerweile war es so weit, dass Männer, die nur eine Generation jünger waren als er selbst, daran dachten, die Tonalität völlig zu zerstören. [...] Das Problem in der Musik reflektierte das Problem der Welt, die es produziert hatte. Nach fast einem Jahrhundert Pax Britannica stellten nun die imperialistischen Vorstellungen Deutschlands die schwerste Herausforderung an Großbritannien seit jener Ära dar, die bei Waterloo geendet hatte. Und in jenen letzten Tagen erreichte Edwards Musik eine derartig breite Zustimmung beim Publikum, wie man sie seit den Tagen Händels nicht mehr gekannt hatte. Die Musik, die so sehr beeindruckte, musste offensichtlich etwas sagen, was die Menschen unbedingt hören wollten. Was sie in ‚The Apostles’ und in ‚The Kingdom’ hörten und in der Symphonie hören sollten, war das Bedürfnis, am alten Ideal festzuhalten, dies aber gleichzeitig den schärfsten Prüfungen der Zukunft auszusetzen.“

Musik des Übergangs also?

Im zweiten Satz etabliert sich nach wenigen Takten ein fast Mahler’scher Marsch, der mit seiner Aggressivität dem weichen Melos des idealen Mottos gegenübergestellt wird. Um diesen herum rasen gespenstische Sechzehntelläufe, deren Tonfolge dann später – anders rhythmisiert – zum Thema des großen Adagios werden.

Dann unterbricht plötzlich ein pastorales Thema den wilden Rummel, dessen spezifische Gestaltung Elgar ausgesprochen wichtig war („spielen Sie es wie etwas, das wir unten am Fluss hören“) und das die erneut anhebenden Sechzehntel und den sich wieder aufbäumenden Marsch wie eine friedliche Reminiszenz unterbricht. Schließlich beendet es – nun an das Motto-Thema erinnernd – den Satz und lässt ihn an einem „Brückenton“ in das Adagio übergehen, von dem Hans Richter meinte: „Ah! Das ist ein echtes Adagio – so ein Adagio, wie Beethoven es geschrieben hätte.“

Auch hier entwickelt sich der Eindruck, dass sich Elgar in seinen langsamen Sätzen, die zwar wohlklingend, aber doch meist grüblerischer Natur sind, am unmittelbarsten zeigen kann. Arthur Bliss’ sah das so:

„Ich denke, Elgar war ein Mensch von inspirierter musikalischer Persönlichkeit. Er schrieb, weil er schreiben musste. Meiner Meinung nach war er ein sehr sensibler, hochgradig einfallsreicher, oft beunruhigter Mensch, und wann immer ich den langsamen Satz der ersten Symphonie höre, so sehe ich ihn als Menschen vor mir. Ein ganz klares Bild von ihm gewinne ich in den letzten Takten.“

Doch auch hier wird das eigentliche Konzept der Symphonie fortgesponnen. Bedrohte im vorausgegangenen Satz besonders das rhythmische Element das Ideal, so ist es hier die Anfechtung durch die Chromatik, die der Komponist im Auge hat. Allerdings wird dies – laut Moore – besonders zu Beginn deutlich, wo es in den absteigenden Phrasen des Themas zu allerlei chromatischer Unsicherheit kommt. Dann jedoch wendet sich der Satz zurück zum anfänglichen D-Dur und es folgt ein nostalgischer Rückblick auf den Glanz des Vergangenen, der in aller Breite und voller Wohlklang beschworen wird:

„Aber darin findet das Adagio zur absoluten Definition von ‚Nostalgie’. Eine Vision der Vergangenheit gerät nur dadurch in den Blick, dass auch gezeigt wird, was danach kam. Ohne das Bewusstsein eines späteren Anderen, würde der Rückblick nicht existieren.“

Der letzte Satz beginnt mit einer dem Allegro-Thema des Kopfsatzes ähnlichen Figur, die sogleich auf eine düstere, vom idealen Thema abgeleitete Figur trifft. Dann erscheint in den Klarinetten eine Kombination dieser Figur, sodass die ehemaligen Antagonisten nun verbunden sind. Doch damit nicht eitel Sonnenschein. Vielmehr entwickelt sich in Folge ein ähnlich konflikthafter Satz, wie es schon der erste war. Doch der Konflikt wird zerschlagen, ein Tritonus beendet das Geschehen, es wird ruhig und ein neues Derivat des Motto-Themas, das nun – sicher nicht zufällig – in Es-Dur steht, wird vorgestellt. Zwar flackern die Konflikte im Anschluss noch einmal kurz auf, doch ist die Stimmung eine grundsätzlich andere. Es wird nun deutlich, dass die Symphonie - in der guten Tradition des per-aspera-ad-astra - zu einem positiven Ende gebracht werden wird. Nochmals erscheint das Motto-Thema, nun wieder in seinem ursprünglichen As-Dur, umrauscht von Streicherarpeggien und die Symphonie wird zu einem strahlenden Schluss gebracht.

Elgar hatte gezeigt, dass England mitnichten ein „Land ohne Musik“ war, wie man auf dem Kontinent gern sagte. England hatte endlich einen neuen Symphoniker von Format hervorgebracht, dessen Einschätzung als Komponist außerhalb Großbritanniens allerdings bis heute noch immer unter zwei Dingen leidet.

Zum einen ist dies die Popularität einiger weniger Werke, zum anderen – zumindest in unseren Breiten – ist dies die schlichte Unkenntnis der über diese "Schlager" hinausgehenden Kompositionen.

Deutlich wird das Problem zusätzlich auch daran, dass es keine neuere deutschsprachige und umfassende Elgar-Biographie gibt, was nun nicht unbedingt für Abhilfe sorgt. Und was Meinhard Saremba entsprechend zu den Zeitgenossen schreibt, scheint mir – der ganz persönlichen Erfahrung nach – noch oft die Basis heutiger Kritik zu sein:

„Das Enigma des Menschen Elgar wollten seine Zeitgenossen ebenso wenigverstehen wie die Warnzeichen der internationalen Krisen. Elgar galt als der Prunkkomponist des Pomp and Circumstance, den man in allen seinen Werken zu finden glaubte. Die ersten beiden der berühmten Orchestermärsche mit dem klangvollen Titel, der sich an Othellos Vision seines zugrundegehenden Ruhms anlehnt, entstanden 1901 zum Beginn der Regierungszeit von König Edward VII. Insbesondere der erste Marsch in D-Dur (1901), der in Verbindung mit A. C. Bensons Text ‚Land of Hope and Glory’ zu einer Art zweiter Nationalhymne mutierte, und der vierte Marsch in G-Dur (1907) wurden zum Inbegriff von nationaler Festmusik und Hurra-Patriotismus. Elgar schwebte jedoch in Anlehnung an Mozarts oder Schuberts Klaviermärsche ursprünglich ein Zyklus von sechs Orchestermärschen vor, von denen er fünf vollendete. Die Märsche Nr. 2 in a-Moll (1901), Nr. 3 in c-Moll und Nr. 5 in C-Dur (1930) bieten weder Pomp noch Prunk, und als Einheit betrachtet und gehört bilden die Pomp and Circumstance-Märsche eher eine Art Suite von sinfonischen Miniaturen mit wechselnden musikalischen Stimmungen. Waren aber die Moll-Märsche wie etwa auch die 1911 uraufgeführte 2. Sinfonie, mit der Elgar viele seiner Anhänger verprellte, nicht doch ein Ausrutscher, ein Irrtum?“ (Saremba, 87 f.)

Hört man Elgars Werke indes unbefangen und beschäftigt sich mit der umfangreichen Literatur, die in der anglo-amerikanischen Welt zu Elgar vorliegt, so wirken die abfälligen Werturteile, auf die Saremba oben rekurriert, nicht nur wenig durchdacht, sondern erschreckend abgeschrieben bzw. nachgeplappert. Bereits 1957 hat Hans Keller in seinem beachtenswerten Aufsatz "Elgar, the progressive" trefflich einen Grund für die mangelnde Beschäftigung mit Elgar jenseits Großbritanniens aufgezeigt, der auch heute noch eine gewisse Gültigkeit hat:

„Auf dem Kontinent ist man viel zu sehr damit beschäftigt, die Veränderungen aufzunehmen, die dadurch [Keller bezieht sich auf die von ihm so genannte ‚Schönberg'sche Revolution’, Anm. der Verf.] in seiner eigenen Musiktradition hervorgerufen wurden, als dass man die volle Bedeutung von Elgars konservativer Fortschrittlichkeit würdigen kann.“

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Die Zitate in diesem Text stammen aus den folgenden Werken. Die Übersetzungen stammen sämtlich vom Verfasser.

Keller, Hans: Elgar the Progressive. In: The Symphony. Vol. 2: Elgar to the Present Day. Ed. by Robert Simpson. Harmondsworth 1967.
Kennedy, Michael: A Portrait of Elgar. London 1968.
Kennedy, Michael: Elgar. Orchestral Music. London 1970.
Kennedy, Michael: The Life of Elgar. Cambridge 2004.
Moore, Jerrold Northrop: Edward Elgar. A Creative Life. Oxford 1984.
Moore, Jerrold Northrop: Elgar. Child of Dreams. London 2004.
Saremba: Meinhard: Elgar, Britten & Co. Eine Geschichte der britischen Musik in zwölf Portraits. Zürich 1994
 
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Interessante Einspielungen
 

Elgar (1930), London Symphony Orchestra: 17:14 / 07:38 / 10:16 / 11:20
 
Die vorliegende Aufnahme entstand im November 1930. Die Welt ächzte unter den Lasten der Weltwirtschaftskrise, die NSDAP wurde zweitstärkste Partei im deutschen Reichstag, Agatha Christie veröffentlichte ihre erste Miss-Marple Geschichte und der 73jährige Elgar fand sich in der Londoner Kingsway Hall mit den Musikern des London Symphony Orchestra zusammen, um gemeinsam mit ihnen für HMV seine erste Symphonie aufzunehmen.
 
Es ist auch heute noch begeisternd zu hören, wie leicht, frisch, selbstverständlich und ohne jedes übertriebenes Pathos Elgar seinen symphonischen Erstling auch 22 Jahre nach seiner Erstaufführung noch dirigiert.
 
Da setzt das Motto ganz leicht artikuliert ein, Elgar gibt ein schön schreitendes Thema vor. Auch wenn es zum neuerlichen Einsatz des Mottos im Fortissimo (Ziffer 2) kommt, bleibt Elgar im Grunde bei dieser Linie. Es wird kein Pomp inszeniert, das klingt zwar saftig und sehr repräsentativ, aber dennoch nicht einen Moment lang in die Breite gezogen. Elgar verweigert dem Hörer den goldglänzenden langen Bogen und jenen „Nobilmente“-Sound, den die Spielanweisung („Nobilmente e semplice.“) nahe legt. Offensichtlich hatte Elgar andere Vorstellungen von diesem Begriff als spätere Generationen, die ihn – vielleicht – süffiger verstanden, als er ursprünglich gemeint war.
 
Forsch geht es in die Exposition hinein. Elgar lässt das wirklich appassionato spielen, der nervös-kämpferische Charakter des Satzes wird mit der Vorstellung des ersten Themas exemplarisch umgesetzt. Ebenso bescheiden schleicht sich das zweite Thema („dolce“) herein, das hier ganz wunderbar von den Flöten umrankt wird. Dann will Elgar es wissen, zieht das Tempo noch einmal an, sodass ein ganz wildes Treiben entfesselt wird. Die Durchführung (Beginn bei Ziffer 18) ist von großer Unruhe, ja Nervosität durchzogen, die – wenn das zweite Thema auftaucht – schon einmal recht koboldhaft wirken kann. Selbst in ruhigeren Passagen ist immer klar, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm ist. Wunderschön gelingt Elgar, der ohnehin die ganze Zeit ein ganz untrügliches Gefühl für Rubati hat, der Übergang zu Coda und die ganz natürliche Ausarbeitung des langsamen In-Sich-Zusammensinkens dieses Satzes.
 
Wer aber meint, dass nach diesem Ausatmen kein Einatmen mehr käme, der täuscht sich. Der zweite Satz (im Grunde ein Scherzo) bricht mit neuerlicher Nervosität herein. Die wilden Sechzehntelketten werden von Elgar mit viel Kraft vorwärts gepeitscht, bis marcato (bei 59) ein aggressiver Marsch von Mahler’scher Manier einsetzt, der für meinen Geschmack etwas mehr Gewicht haben dürfen. Aber die Grellheit, die Elgar der folgenden Passage entlockt, versöhnt mich sofort wieder. Mit dem Beginn des Trios wechselt die Stimmung. Elgars Wunsch, man möge das spielen wie etwas, „dass man unten am Fluss gehört“ hat, wird mustergültig erfüllt. Was für ein pastoraler, lieblicher, aber auch geheimnisvoller Moment. Dann kehren Anspannung und Aggression zurück, bevor der Satz ruhig endet und mittels eines „Brückentones“ ins Adagio übergeht.
 
Das Adagio dieser Symphonie ist einer der berühmtesten Sätze Elgars überhaupt. Während der ein oder andere Dirigent aus diesem Satz ein Bad in den wohligen Klängen dessen veranstaltet, was man verkürzt als typische Musik des „Empire“ verstehen kann, so macht Elgar, der sowohl Bürger als auch Künstler dieses Empires war, nichts dergleichen. Sicher, auch unter seiner Leitung entfaltet der Satz seine herrliche lyrisch-pastorale Qualität, die mir immer das Gefühl vermittelt, er sei der „Soundtrack“ zu einem Landschaftsgemälde Constables – vielleicht an „The Hay Wain“? Aber: Da wird nichts, aber auch nichts forciert, Elgar drückt nicht ein einziges Mal auf den Sentimentalitäts-Booster und die Tränendrüse. Stattdessen entfaltet sich ein steter, leise bewegter Fluss, der den Kitsch-Vorwurf, den ich immer wieder einmal in Punkto der langsamen Sätze Elgars gehört habe, Lügen straft. Wenn diese Musik kitschig klingt, dann wirft der Interpret mit der Wurst nach der Speckseite.
 
Die unheimliche Einleitung zum Finale gelingt Elgar ausgesprochen gut. Da klingt es düster, spukhaft, dräuend, ungewiss, hier und da lugt das Motto hervor, ohne jedoch seine strahlende Wirkung entfalten zu können. Die Exposition, in der ein eher aufgeregtes und ein eher positives Thema kontrastiert werden, zeigt erneut, mit wie viel Biss Elgar an seine eigenen Werke heranging. Da gibt es kaum Zeit zum Atemholen, Elgar lässt die Musiker des London Symphony Orchestra förmlich durch dieses Satz rasen, der Kampf, den die beiden Themen in der Durchführung um die „Vorherrschaft“ kämpfen, ist in der Lesart des Dirigenten Elgar ein unerbittlicher. Wie meisterhaft gelingt ihm dann kurz vor der Reprise der Stimmungswechsel, wie selbstverständlich und ohne Schnickschnack baut er den Weg zur Coda auf, wie überzeugend gelingt die Wiederkehr des nun in voller Pracht erscheinenden Mottos, ohne dass es nötig wäre, übermäßigen Pomp zu bemühen.
Eine nach meinem Dafürhalten hervorragende Aufnahme.
 
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Davis (1998) – Staatskapelle Dresden: 19:30 / 07:23 / 12.27 / 11:55

Colin Davis war meistenteils ein solider, aber gewiss kein sonderlich aufregender Elgar-Dirigent. Seine Aufzeichnung des „Gerontius“ ist hörenswert, aber nicht wirklich exzeptionell, ähnliches gilt für seine Einspielung der Symphonien mit dem LSO. Die vorliegende Aufnahme der ersten Symphonie ist indes eine Sternstunde. Mit der Staatskapelle Dresden gelingt Davis eine Wiedergabe des Werkes, die nach meinem Dafürhalten viele der klassischen überstrahlt und auch alle jüngeren (z.B. Elder, Ashkenazy, de Waart) deutlich hinter sich lässt. Die Aufzeichnung entstand im Jahre 1998 und damit mitten in der Ägide Sinopolis, der sich mit der Staatskapelle intensiv der spätromantischen Musik widmete: Wagner, Bruckner, Strauss, Mahler – was liegen da bei der DG und Hänssler doch für herrliche Aufnahmen vor. Meines Erachtens ist es nicht vollkommen auszuschließend, dass es gerade die intensive Beschäftigung des Orchesters mit diesem Repertoire in jenen Jahren ist, die auch auf diese Aufführung der ersten Symphonie Elgars „abgefärbt“ hat und sie so besonders macht. Es ist nicht zuletzt der Klang, der der Staatskapelle in den Sinopoli-Jahren zu Gebote stand, der mich auch an dieser Aufnahme fasziniert.

Bestes Beispiel ist der Beginn des Werkes. In einem einigermaßen gemessenen Tempo lässt David das „Motto“ vorstellen, das hier mE ganz so klingt, wie es sich der Komponist gewünscht hat: ideal, nobel, erhaben. Die Kapelle spielt ein ganz herrlich tragendes Piano, ein enorm feines Piano pianissimo, ein echtes Espressivo. Dann aber die Wiederholung des Themas im Fortefortissimo! Das ist ohnehin ein großer Moment und – leider – einer jener, der Elgar den eindimensionalen Vorwurf eingebracht hat, den britischen Imperialismus in Töne gegossen zu haben. Hier jedoch entfesselt die Staatskapelle einen derart sonoren Ton, so üppig, leuchtend, golden und kraftvoll, wie ich es bisher bei keiner Gelegenheit gehört habe. Das ist wie ein Sonnenaufgang bei Strauss – nur ganz anders. Das erste Thema (Allegro) setzt schwer ein, im ersten Moment könnte man meinen, dass Davis nun (zu) zäh weitermachen wird. Doch ist es nicht an dem. Davis nimmt schnell Fahrt auf und arbeitet sehr schön den Widerstreit zwischen dem ersten erregten und dem sehr licht von den Violinen vorgetragenen zweiten Thema heraus. Treffsicher gestaltet er Momente großer Vehemenz (z.B. „con fuoco“ bei Ziffer 16 oder die enorme Entladung bei Ziffer 28: „Grandioso tempo.“) und intensiver Intimität (Beginn der Durchführung oder den wirklich „poco tranquillo“ klingenden Schluss). Hinzu kommt die präzise Arbeit an Details, die oft vernachlässigt werden, wie das ab und an sehr schön hervortretende Englischhorn oder das sehrende Cello-Motiv 5 Takte nach Ziffer 25.

Die Wiedergabe des zweiten Satzes (Scherzo, Allegro molto), der sich immer wieder in Mahler-Nähe bewegt, überzeugt mich durchweg. Da brodelt der unruhige Anfang vor lauter aufgestauter Energie, die Davis’ nur wenig später auch (scheinbar) ungehindert herausbrechen lässt. Auch den nun die „Bühne“ betretenden mahleresken Marsch kann ich mir nicht überzeugender musiziert vorstellen, zumal ich mir dessen wichtigen Fortefortissimo-Ausbruch bei 61 nicht greller, beißender und ätzender wünschen könnte. Sehr schön gelingt Davis und der Kapelle auch die Umsetzung der sich im Trio abrupt verändernde Atmosphäre, die sich vom einen zum anderen Moment in irrlichtartigen, Heiterkeit nur vortäuschenden Regionen bewegt. Der Streit dieser beiden Elemente, der sich aus dem vorangegangenen Satz hier fortsetzt, wird erneut mustergültig umgesetzt. Ab Ziffer 87 schleicht sich dann schlüssig jener melancholische Ton ein, der zum sich „attaca“ anschließenden Adagio überleitet.

Das Adagio bewegt sich bei Davis am ziemlich langsamen Ende seiner Bandbreite, doch vermeidet er das Abgleiten ins Kitschige voll und ganz. Stattdessen erlebe ich eine sehr zarte, verinnerlichte, eher aufs stetige Zurücknehmen denn aufs dickpinselige Auskosten bedachte Lesart. Das Espressivo, das Elgar immer wieder verlangt, ist eben gefühlvoll und nicht übervoll an Sentiment. Das ebenfalls geforderte Cantabile ist sanglich, aber immer schlicht (z.B. bei der Vorstellung des zweiten Themas und besonders bei dessen Wiederholung durch Bratschen und Celli, s. Ziffer 97). Ab Ziffer 100 (Beginn der „Reprise“) wendet sich Davis’ Lesart immer mehr und mehr nach innen. Genau das ist der klangliche Ausdruck jener „nostalgic imagination“, die laut Matthew Riley eine der Grundfesten von Elgars Kunst darstellt. Die letzten Takte lässt Davis wie ein – nicht notiertes, aber gefühltes - „morendo“ spielen, der Satz löst sich in einer geradezu traumhaften Stimmung auf.

Das Finale ist in meinen Augen – ähnlich wie auch in der zweiten Symphonie – der am schwersten überzeugend zu gestaltende Satz des Werkes. Tatsächlich bin ich mittlerweile der Überzeugung, dass nur Elgar selbst dem Satz gerecht wurde. Davis’ Interpretation ist indes nicht der schlechtesten eine. Der undurchsichtige Ton der Einleitung wird sehr schön gezeichnet, die immer wieder aufflackernden und scheiternden Versuche des Mottos bereits hier durchzudringen, können wohl kaum plastischer zu erleben sein als hier. Das sich anschließende erste Thema könnte für meinen Geschmack etwas härter, mit weniger Linie artikuliert werden. Die Durchführung gelingt kraftvoll, wieder ist es die Kontrastierung des erregten ersten und des „positiven“ zweiten Themas, die Davis besonders packend herausschält. Wie dann langsam aber das Dunkel-Erregte vom Licht verdrängt wird, um schließlich in der Wiederkehr des Mottos in einem kaum zu überbietenden Grandioso zu gipfeln, zeigt einen enormen Sinn für die Struktur des Satzes und ist an Klangkraft und Glanz kaum zu überbieten. Dass es das britische Publikum, das sich um die Jahrhundertwende sehnlichst einen Symphoniker von Rang wünschte, hier einst von den Sitzen gerissen hat – ich kann es verstehen. Hat man diese Aufnahme nicht gehört, so hat man eines der leidenschaftlichen Plädoyers für das Werk verpasst.
 
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