Entstehung

Phase 1

George Bernard Shaw hatte es sich in den Kopf gesetzt, seinen Freund Elgar zur Komposition einer weiteren Symphonie zu bewegen. Immer wieder stellt er ihm in Gesprächen und Briefen bohrende Fragen, die im Grunde nichts anderes sind als indirekte Aufforderungen. Elgar hatte schon 22 Jahre kein wirklich umfangreiches neues Werk geschaffen, doch in Shaws Augen schien Elgars Licht noch zu leuchten, selbst wenn sich Elgar selbst dieses Lichtes nicht mehr wirklich sicher war. Im Januar 1932 kam Shaw in einem seiner Briefe an Elgar wieder einmal auf das Thema zu sprechen: „Warum sorgen Sie nicht dafür, dass die BBC Ihnen einem Auftrag für eine neue Symphonie zukommen lässt? Sie kann es sich leisten.“ (Brief vom 7.1.1932)

Elgar wich aus, wie er schon seit langer Zeit immer wieder auswich. Dennoch wird es aus den Briefen der folgenden Monate deutlich, dass er sich gedanklich mit der Symphonie beschäftigte. Doch legt er sich weder fest noch bekannte er sich in irgendeiner Weise zu dem Projekt. Mitte 1932 schreibt er an Basil Maine (der später eine Biographie Elgars verfasste): „Ich fürchte es gibt in Bezug auf die neue Symphonie nichts zu sagen […].“ Den jungen Walter Legge, der für eine Zeitschrift wissen will, ob das mittlerweile bestens etablierte Gerücht, der Grandseigneur der englischen Musik komponiere ein neues symphonisches Werk, den Tatsachen entspricht, speist er mit den Worten ab: „Über die mythische Symphonie gibt es fürs erste nichts zu sagen – wahrscheinlich auch für eine lange Zeit nicht, - mit ziemlicher Sicherheit überhaupt nicht - niemals.“ (beide zit. n. Payne, S. 9) Am 14. Dezember des Jahres 1932 jedoch verkündet Landon Ronald jedoch, dass die BBC Elgar offiziell mit der Komposition einer Symphonie beauftragt habe. Tatsächlich war dies der Initiative George Bernard Shaws zu verdanken, der Sir John Reith bedrängte, Elgar einen Auftrag zu erteilen.

In Elgars Korrespondenz ändert sich nun der Tonfall, wenn es um das neue Werk geht. Ende Februar 1933 schreibt Elgar an Reith: „Ich bin zufrieden mit dem Entwurf und hoffe, dass das Gefüge der Musik so gut ist, wie das, was ich bisher gemacht habe. Doch natürlich gibt es Momente, in denen man sich unsicher fühlt. […] Im Moment jedoch ist die Symphonie das stärkste, was ich bislang zu Papier gebracht habe.“ (zit. n. Payne, S. 11) Die Arbeit am neuen Werk geht – so scheint es zumindest den Menschen um Elgar herum – stetig vorwärts. Die Skizzen zum Werk indes zeigen keinen kohärenten Kompositionsvorgang. Auf der anderen Seite jedoch, komponierte Elgar nicht stringent, sondern, wie es Diana McVeagh genannte hat, „mosaikartig“. Im August 1933 spielt Elgar seine Symphonie – anscheinend – dem künstlerischen Leiter der HMV Fred Gaisberg am Klavier vor, der voller Begeisterung berichtet: „Das Werk wirkt auf mich jugendlich und frisch – hundertprozentiger Elgar ohne ein Anzeichen von Verfall. […] Das Werk ist komplett, was Struktur und Gestalt angeht, und die Orchestrierung ist schon ziemlich weit fortgeschritten.“ (zit. n. Payne, S. 11) Doch keine der Aussagen spiegelt sich in dem wider, was uns heute an Material zur dritten Symphonie vorliegt. Tatsächlich nimmt Anthony Payne an, dass Elgar das, was er Gaisberg vorspielte und erläuterte, im Geiste zwar fertig, jedoch noch nicht zu Papier gebracht hatte – auch dies eine Konstante in Elgars Kompositionsweise. (vgl. Payne, S. 11) Doch bald gerät Elgar ins Stocken. Der heiße Sommer 1933 macht ihm gesundheitlich zu schaffen, im September des Jahres lenkt ihn seine Tätigkeit beim Three Choirs Festival ab. Im Oktober geht Elgar ins Krankenhaus, um dort der Herkunft seiner immer wiederkehrenden starken Rückenschmerzen auf den Grund zu gehen. Die Diagnose ist ein Schlag. Elgar leidet an einem Pankreaskarzinom und hat nur noch wenige Monate zu leben.

Im Februar 1934 stirbt Elgar. Die Symphonie ist nicht fertig. Hinzu kommt, dass Elgar höchst widersprüchliche Aussagen dazu gemacht hat, wie nach seinem Tod mit dem vorhandenen Material umgegangen werden sollte. So sagte er seinem Arzt: „Wenn ich die dritte Symphonie nicht fertig stellen kann, dann wird sie jemand anders fertig stellen – oder eine bessere komponieren – sei es in fünfzig oder fünfhundert Jahren. Von dem Punkt am Rande der Ewigkeit aus betrachtet, an dem ich mich nun befinde, ist das nichts als ein Moment in der Zeit.“ (zit. n.Payne, S. 13). Auf der anderen Seite stehen die berühmten Worte vom Sterbebett, von denen sein enger Freund William Reed berichtet: „’Ich möchte…, dass Du etwas für mich tust… die Symphonie ist nur Stückwerk… niemand würde verstehen… niemand… niemand.’ Ein Ausdruck von Schmerz zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und seine Stimme erstarb vor Anstrengung. Ich beugte mich über ihn und sagte: ‚Was soll ich für Dich tun? Versuche es mir zu sagen. Ich würde alles für Dich tun, das weißt Du.’ Wieder langes Schweigen. Doch trat ein friedlicherer Ausdruck auf sein Gesicht und nach kurzer Zeit zog er mich zu sich und sagte: ‚Lass niemanden damit herumpfuschen… niemand könnte verstehen… niemand darf damit herumpfuschen.’“ (Reed, S. 114) Mir scheint diese Ambivalenz im Angesicht der letzten Dinge nun nicht eben verwunderlich. Ein Problem wurde daraus lediglich für die Nachwelt. Was sollte mit den Skizzen zur Dritten nun passieren?

Urheberrecht

Mit Elgars Tod wurden die Dinge schwierig. Seine Tochter Carice sicherte sich das Copyright am Werk, schenkte die Skizzen aber der BBC, die ihrerseits versicherte, dass niemand jemals Zugriff zum Zwecke einer Komplettierung auf sie erhalten sollte. Wäre dies die Situation geblieben, wäre das Copyright nach den gesetzlichen Regelungen zum britischem Urheberrecht in Bezug auf posthum unveröffentlichte Werke aus dem Jahre 1988 erst im Jahre 2038 ausgelaufen und Anthony Payne hätte sich vermutlich nicht an die Fertigstellung des Werkes machen dürfen. Gleichzeit jedoch erwarb die BBC das Recht, immerhin Teile der Skizzen mit einem Kommentar von Reed in ihrem Magazin „The Listener“ zu veröffentlichen, was wiederum überhaupt nicht wirklich dem von Elgar formulierten Wunsch entsprach. Reed wiederum veröffentlichte die Teile (es handelt sich um etwa drei Viertel des gesamten Materials) und seine Anmerkungen in seinem Buch „Elgar as I Knew Him“ erneut. Das Buch erschien 1936, sodass die Öffentlichkeit 1986 auf die bei Reed abgedruckten Skizzen hätte zugreifen können. Allerdings wurden die Regelungen 1995 an das europäische Recht angepasst, das nicht mehr 50, sondern 70 Jahre Urheberrecht festlegte. Somit hätte man sich bis 2005 nicht der bei Reed zu findenden Skizze bedienen dürfen. Was trieb Reed dazu, Elgars Wünsche auf diese Art und Weise zu umgehen? Er hat sich nie dazu geäußert. Colin Matthews vermutet, Reed hätte auf dieses Weise zeigen wollen, dass die Skizzen im Grunde nichts hergaben. (vgl. Matthews, S. 16) Ob es wirklich an dem war, kann heute nicht mehr geklärt werden.

Phase 2

Anthony Payne stolperte über Elgars Skizzen, als er zu Beginn der 70er Jahre Reeds Buch „Elgar as I Knew Him“ las. Fortan spielte er immer wieder mit ihnen und machte im Grunde genau das, was Elgar nicht gewollt hatte: „An den Skizzen herumzupfuschen – genau jenes Herumpfuschen also, das Elgar vom Totenbett aus verboten hatte – war ein verstohlenes Hobby […].“ (Payne, S. 3) Dieses Hobby pflegte Payne über die nächsten Jahre mehr oder weniger intensiv, bis 1993 Paul Hindmarsh von der BBC bei ihm anfragte, ob er sich vorstellen könne, eine Rundfunksendung über Elgar 3 zu gestalten und dafür Teile der Skizzen in aufführbare Form zu bringen.

Das Manuskript zu Elgar 3 hat 127 Seiten, wobei davon 87 als eigentliches Quellmaterial angesehen werden. Der Rest besteht aus ganz groben Notizen, die dann innerhalb des Quellmaterials wieder auftauchen. Andere Seiten können nicht entziffert werden, andere sind voller Notizen, die sich auf die Haushaltsführung und Gartenplanung Elgars beziehen, wieder andere enthalten vornehmlich Gekritzel und Unterschriften Elgars, der hier offensichtlich eine neue Feder einschrieb. Von den brauchbaren 87 Seiten beziehen sich 51 auf den Kopfsatz, wobei die ersten 17 Takte der Exposition und die 9 Takte vor der Wiederholung der Exposition komplett orchestriert sind.

Payne war Feuer und Flamme und vervollständigte in kurzer Zeit Scherzo und Adagio. Doch die Familie lehnt die Nutzung dieser Vervollständigung für die Rundfunksendung ab, weil sie Elgars Wünschen widerspräche. Payne tritt daraufhin noch einmal persönlich an die Familie heran, erreicht aber nichts. Die Rundfunksendung gestaltet er jedoch, allerdings werden nur die von Elgar orchestrierten Passagen mit vollem Orchester gespielt, die restlichen Skizzen werden am Klavier vorgetragen.
1996 spricht Payne die Familie erneut an, wobei nun Bewegung in die Sache kommt. Grund dafür war wohl nicht zuletzt, dass Payne noch einmal auf die Frage des Urheberrechtes zu sprechen kam: „Ich legte der Familie nahe, noch einmal intensiv darüber nachzudenken, dass die von Reed veröffentlichen Skizzen in neun Jahren gemeinfrei werden würden. Es sei somit zu erwarten, dass aller Orten halbgare Vervollständigungen der Symphonie – beispielsweise im Rahmen von Doktorarbeiten - auftauchen würden und sie keinerlei Kontrolle über die Situation mehr hätten.“ (Payne, S. 23) Tatsächlich diskutiert die Familie daraufhin die Situation. Im Mai 1996 wird klar, dass nur noch ein Mitglied der Familie gegen eine Vervollständigung durch Payne steht. Im Juni steht fest: Payne kann die Symphonie „mit dem Segen der Familie“ (Payne, S. 26) vervollständigen. Die Neuigkeit macht schnell die Runde. In der Fachwelt bilden sich – entsprechend der Äußerungen Elgars - zwei Lager, die das Projekt entweder vehement ablehnen oder leidenschaftlich verteidigen. Im Oktober 1997 wird das Werk vor seiner öffentlichen Erstaufführung von Andrew Davis und dem BBC Symphony Orchestra eingespielt, am 15. Februar 1998 dann erklingt das Werk mit eben diesen Ausführenden erstmals in der Royal Festival Hall. Die Reaktionen auf die Erstaufführung sind fast einhellig so enthusiastisch, wie diese Zeilen aus David Cairns’ Besprechung aus der „Sunday Times“:

„Dies ist die Ausnahme von der Regel. Alle Skrupel und Vorbehalte – moralische wie praktische – werden von der großartigen und ausgesprochen Elgar’schen Partitur weggewischt, die Payne vorgelegt hat. Seine geduldige und brillante Rekonstruktion hat ein großes Werk vor dem Vergessen bewahrt. […] Niemand könnte je vermuten, dass Elgar nicht der Verfasser der Durchführung und Coda des ersten Satzes oder jener mysteriösen Verbindung ist, die an jenem Punkt steht, wo Elgars Skizzen zum Adagio abbrechen. Die Takte, die Payne hinzugefügt hat, könnten geradezu vom toten Komponisten diktiert worden sein. Er beschreibt das, was er getan hat, als die ‚Herstellung eines Rahmens oder vielmehr eines Kontextes, in dem die außerordentlich reichhaltige Qualität’ der Skizzen vorgestellt werden kann. Doch ist es viel, viel mehr als das, und die Treuhänder Elgars sind mit einem Schatz belohnt worden, mit dem sie kaum gerechnet haben dürften. Sie stehen nun, wie alle die, die Elgar lieben, tief in seiner Schuld.“ (zit. n. Payne, S. 114)

Benutze Literatur

Matthews, Colin: Die Rekonstruktion - eine Rechtfertigung. Begleittext zur Aufnahme NMC 1997 (Andrew Davis)
Payne, Anthony: Elgar's Third Symphony. The Story of the Reconstruction. London 1998.
Reed, William H.: Elgar as I Knew Him. London 1989.
Young, Percy: Letters of Edward Elgar. London 1956
"http://www.elgar.org/3symph3.htm

Alle Übersetzungen stammen vom Verfasser.

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Die Aufnahmen

Derzeit sind fünf Aufnahmen des Werkes erhältlich:

Davis, Sir Andrew (1997) – BBC Symphony Orchestra: 16:19 / 9:40 / 15:14 / 14:45 (NMC)
Daniel, Paul (1999) – Bournemouth Symphony Orchestra: 16:09 / 8:23 / 15:24 / 14:46 (Naxos)
Davis, Sir Colin (2001) – London Symphony Orchestra: 15:50 / 9:41 / 16:12 / 15:50 (LSO Live)
Otaka, Tadaaki (2007) – Sapporo Symphony Orchestra: 16:11 / 9:48 / 15:05 / 16:34 (Signum Classics)
Hickox, Richard (2007) – BBC National Orchestra of Wales: 15:33 / 9:51 / 15:08 /15:03 (Chandos)

Außerdem ist die von Anthony Payne gestaltete Radiosendung zu Elgar 3 auf CD erschienen. (BBC Music, Vol. IV No. 2)

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