Michael Schwalb

Ein Jahr des Ruhmes. Zu Edward Elgars In the South (Alassio) op. 50

Das Jahr 1904 schien zunächst gar nicht gut zu beginnen für Edward Elgar. Seit beinahe fünf Jahren hatte er, anhebend mit der Uraufführung der Enigma-Variationen (1899), erste große Erfolge zu verzeichnen: der wunderbare Gesangszyklus der Sea Pictures (1899), das abendfüllende erste Oratorium The Dream of Gerontius (1900), im Jahr darauf die Konzertouvertüre Cockaigne (In London Town), sowie, ebenfalls 1901, die ersten beiden der Pomp and Circumstance-Märsche. Elgar schien auf einer Welle des ungebremsten Erfolges zu reiten. Doch nun lastete ein gewaltiger Druck auf dem Mittvierziger: Er wollte endlich, als höchste Form orchestralen Komponierens, eine Symphonie schreiben und hatte dafür seit Jahren Skizzen zusammengetragen. Aber immer wieder hatte er den Arbeitsbeginn hinausgeschoben und den sich bietenden Uraufführungsmöglichkeiten entzogen.

Um dem englischen Winter zu entfliehen, wollte der sensible, aber auch hypochondrische Komponist einige Monate im vermeintlich sonnigen und warmen Süden verbringen. Es zog ihn, wie viele seiner Landsleute, an die italienische Riviera, wo er, endlich, seine Symphonie beginnen wollte. Im November 1903 waren Elgar und seine Frau Alice nach Bordighera gereist, wo es ihnen aber – eben aufgrund der zahlreichen Engländer („the place is lovely but too cockney“) – wenig gefiel. So fuhren die Elgars am 11. Dezember an der ligurischen Küste weiter ostwärts nach Alassio, um sich dort in der Villa San Giovanni einzumieten. Von dort aus hatte Elgar Blick auf „die herrliche wunderschöne Umgebung – Flüsse, Blumen, Hügel, mit den fernen Schneebergen zu einer Seite und dem blauen Mittelmeer zur anderen.“

Zu Weihnachten kam die 13-jährige Tochter Carice, begleitet von einer Freundin der Elgars, aber trotz aller familiären Harmonie war der Komponist sehr niedergeschlagen. Er litt unter dem schlechten regnerischen Wetter und den kalten Winden, außerdem deprimierte ihn der sich abzeichnende Fehlschlag, die Symphonie auch unter Zeitdruck nicht komponieren zu können. Elgars Freund und Mäzen Frank Schuster hatte nämlich für Mitte März 1904 ein dreitägiges Elgar-Festival im Königlichen Opernhaus Covent Garden organisiert, das vom Hallé-Orchestra aus Manchester unter seinem Leiter Hans Richter bestritten werden sollte. Elgar hatte für diesen Anlass seine 1. Symphonie in Es-Dur versprochen, die er Hans Richter widmen wollte, der seit seiner Uraufführung der Enigma-Variationen und von The Dream of Gerontius ein wahrer Fan von seiner Musik und ein treuer Freund geworden war.

Am 3. Februar klagte Elgar seinem Verlagslektor und Freund Alfred Jaeger, dem Nimrod der Enigma-Variationen, in einem Brief: „Diese Reise war und ist künstlerisch ein kompletter Fehlschlag & ich bringe überhaupt nichts zustande. […] Die Symphonie wird in diesem sonnigen (?) Land nicht komponiert werden. Statt der Symphonie versuche ich, eine Konzertouvertüre für Covent Garden fertigzustellen.“ Gleich am nächsten Tag begann Elgar mit der Komposition, und am 7. Februar schrieb er an Frank Schuster: „Ich muss [an Covent Garden] schreiben & sagen, dass die Symphonie nicht möglich ist – ich habe halbwegs eine Konzertouvertüre versprochen – ‚In the South‘ oder ein besserer Titel, wenn Du einen vorschlagen kannst.“

 

Inspiration

Mit besserem Wetter in Alassio unternahm die familiäre Feriengesellschaft ausgedehnte Wanderungen und Zugfahrten, bei denen Elgar reichlich inspirierende Anregungen erhielt, die in die Komposition einflossen. So spazierten Elgar und seine Tochter am Dreikönigstag in das oberhalb von Alassio gelegene Moglio. Der Klang dieses Ortsnamens regte, wie sich Carice erinnerte, die verspielte Kinderseele des Komponisten zu Wortspielen an und wurde – in klanglicher Umsetzung der Sprachmelodie als abfallendes dreitönige Motiv in punktiertem Rhythmus (Mooo-gli-o) eines der zentralen Themen der entstehenden Komposition (Ziffer 11).

Eine andere, von der historischen Landschaft ausgelöste Inspiration erhielt Elgar drei Tage später, als er sich mit dem Zug in den Nachbarort Andora (nicht zu verwechseln mit dem Fürstentum Andorra!) begab und hinauf zur Kirche San Giovanni Battista stieg. Dort begegnete er bei den Überresten einer antiken römischen Heerstraße einem Schafhirten mit seiner Herde. Dieses Bild hat Elgar musikalisch als zentrale Episode (ab Ziffer 20) festgehalten: Es ist eine „schwermütige, unbarmherzige“ Meditation über Größe und Verfall des römischen Reiches, in dieser Rückschau zugleich ein Vorausahnen vom Niedergang des britischen Empire, den der Zeitzeuge Elgar in seinen späten Kompositionen so melancholisch besungen hat.

Elgar hat den Moment seiner blitzartigen Vision folgendermaßen beschrieben: „Der Schäfer mit seiner Herde und seiner selbsterfundenen Musik: Die wuchtige Brücke und immer noch benutzbare Straße, für einen aufnahmebereiten Geist ehrfurchtgebietend inspirierend: Es entfaltete sich eine Musik, die den unbarmherzigen und beherrschenden Vorwärtsdrang der Antike malte und ein Klangbild vom Streit und den Kriegen (‚die Trommeln und Marschrhythmen‘)[…] Blitzartig stand mir alles vor Augen – die lange vergangenen kriegerischen Auseinandersetzungen an eben dieser Stelle, wo ich jetzt stand – der Kontrast von der Ruine und dem Schafhirten – und dann, plötzlich, kam ich zurück in die Gegenwart. In dieser Zwischenzeit hatte ich die Ouvertüre ‚komponiert‘ – der Rest war bloß noch, sie aufzuschreiben.“

Diese eindringliche Beschreibung eines Moments musikalischer Inspiration hat der literaturkundige Komponist verwoben mit einem Zitat: „die Trommeln und Marschrhythmen“, im Original „the drums and tramplings“, entstammen einem Buch von Thomas Browne, der 1658 die Entdeckung römischer Gräber im englischen Norfolk beschreibt und mit eindringlichen Schilderungen des militärischen römischen Lebens in Britannien verbindet. Insofern erlebt Elgar hier, bei seinem ersten Besuch in Italien, in seiner Vision geradezu körperlich die Macht und Gewalt des Imperium Romanum, das zu Zeiten seiner größten Ausdehnung auch Elgars englische Heimat umfasste.

Dem imaginierten Bild einer römischen Streitmacht folgt (ab Ziffer 34) eine pastorale Szene, diesmal inspiriert von der Musik des Hirten. Elgar schreibt: „Ein Schäfer mit seiner Herde, die um die Ruinen der alten Kirche herumstreunte – er sanft und näselnd auf seiner Flöte spielend und gelegentlich zart sein Volkslied („Canto-popolare“) singend & und der Friede & der Sonnenschein übernehmen wieder die Vorherrschaft im Bild.“

Elgar gibt die als „Canto popolare“ bezeichnete sehnsüchtige Melodie, die er der Solobratsche anvertraute, als originale Schäferweise aus; es sei ein Volkslied, aber „Ich weiß nicht, wer diese Melodie geschrieben hat & ich habe sie nicht exakt so aufgeschrieben, wie ich sie gehört habe.“ Diese Äußerung Elgars gegenüber dem Autor des Programmhefts der Uraufführung ist allerdings eine legendenbildende Selbststilisierung, denn hier ist mitnichten der Moment eines mehr oder minder nahtlosen Übergangs von Volks- in Kunstmusik authentifiziert (späterhin war davon auch keine Rede mehr). Aber die künstlerisch-musikalische Erfindung im Volkston, die Entstehung des „Canto popolare“ aus Elgars Vision unter dem Eindruck des Hirten bei den römischen Überresten, ist als eigenständiger schöpferischer Einfall nicht weniger faszinierend.

 

Fertigstellung

So schien der künstlerisch so unproduktiv begonnene Urlaub doch noch zu einer kompositorischen Ernte zu führen. Doch Elgar musste seinen bis Mitte Februar geplanten Aufenthalt in Alassio früher beenden und nach England zurückreisen, da er brieflich für den 3. Februar von König Edward VII. zu einem Dinner im Marlborough House, dem Wohnsitz des Königs, geladen war. (Aufgrund von Edward VII. ausgeprägtem Kunstsinn und seiner Liebe zur Musik schätzte Elgar diesen König ganz besonders.) So konnte die Partitur von In the South erst in England beendet werden; am Abend des 21. Februar schrieb Elgar die letzten Noten sowie die Widmung „To my Friend, Leo F. Schuster”.

Die Zeit bis zum von Schuster angeregten und finanzierten Elgar-Festival vom 14.-16. März 1904 war naturgemäß zu kurz für die normalen Arbeitsabläufe bei einer Drucklegung. Trotz der Anstrengungen des Verlags Novello und des Lektors, Elgars Freund Jaeger, musste daraufhin das Korrekturlesen der Druckfahnen Anfang März von Elgar selber bewältigt werden, damit der Komponist am 9. März in Manchester, dem Sitz des Hallé Orchestra, die erste Probe des neuen Werks leiten konnte. Hans Richter, der Chefdirigent des Orchesters, der In the South eigentlich aus der Taufe heben sollte, hatte Elgar am 4. März gebeten, die Uraufführung selber zu dirigieren, da ihm, Richter, ja durch die späte Drucklegung keine Zeit bleibe, sich auf das Werk vorzubereiten.

So dirigierte Elgar am letzten Abend des dreitägigen Festivals die Uraufführung von In the South. Zwar war der Besucherzustrom nicht ganz so groß wie an den beiden vorangegangenen Abenden, an denen der Gerontius bzw. The Apostles aufgeführt wurde. Aber das Programm, das aus Elgars bisherigen Erfolgsstücken bestand (Auszüge aus Caractacus, die Sea Pictures, die Enigma-Variationen, die Cockaigne-Ouvertüre, die Pomp and Circumstance-Märsche, alles von Richter dirigiert, sowie schließlich die von Elgar geleitete Uraufführung) wurde heftig beklatscht, und In the South fand größte Zustimmung in der Presse. Die Königin war an allen drei Abenden des Festivals anwesend, König Edward an den ersten beiden.

Ein Ausdruck königlicher Wertschätzung war Elgars Erhebung in den Adelsstand, deren Zeremonie am 5. Juli 1904 im Buckingham Palace stattfand. So wurde das unter ungünstigen Umständen begonnene Jahr 1904 zu einem Jahr auch des äußeren Ruhms, der den Komponisten nun nicht mehr verlassen sollte.

Und wenige Jahre nach In the South konnte sich Elgar doch endlich den Weg zur Symphonie bahnen: 1908 wurde seine 1. Symphonie vollendet. Sie steht, wie die in Alassio komponierte Ouvertüre, in Es-Dur und ist Hans Richter gewidmet, der auch die Uraufführung von „Englands erster Symphonie“ (wie sie enthusiastisch von der Presse apostrophiert wurde) dirigierte.

 

Gestalt

In the South (Alassio) ist mit einer zeitlichen Ausdehnung von über 20 Minuten Spieldauer wie auch nach der thematischen Substanz weit mehr als eine Concert-Overture for Orchestra, wie Elgar sein op. 50 im Druck bezeichnete. Die Bezeichnung „Tondichtung“ oder „Symphonische Dichtung“ wäre durchaus treffend; aber Elgar wollte diesen Begriff vielleicht bewusst vermeiden, um nicht Richard Strauss’ berühmte Kompositionen dieser Gattung zu imitieren. Und schließlich hatte auch Strauss mit seiner „Symphonischen Fantasie“ Aus Italien (op. 16) eine durch das Volksleben inspirierte eigene Italien-Erinnerung komponiert, von der sich Elgar sicherlich abzusetzen suchte. Denn sein Verhältnis zu dem erfolgreichen Deutschen war, trotz gegenseitiger Ehrerbietung, nicht ungetrübt: 1902 hatte Strauss nach dem Gerontius in Düsseldorf Elgar mit dem Ehrentitel eines „Ersten der Englischen Fortschrittlichen“ bezeichnet, was Elgar zu Recht als kollegialen Ritterschlag empfinden durfte. Und der zu Depression neigende Elgar bewunderte durchaus die leichte Hand von „Richard the Lionheart“, wie er Strauss nannte, zugleich war ihm aber die allzu glatte und selbstbezogene Oberfläche von dessen Musik suspekt. Trotzdem lässt sich im geradezu manisch-hochfahrenden Beginn von In the South eine Nähe zu Strauss’ Tonsprache, etwa im Don Juan, nicht verleugnen.

Dieses erste Thema mündet in ein für Elgar typisches „Nobilmente“ im dreifachen forte (Ziffer 6), bis sich mit der weiträumigen „Moglio“-Episode (vorbereitet ab vier Takte nach Ziffer 10) eine bukolische Idylle ausbreitet, in der das idiomatische Motiv zwischen Bläsern und Streichern fein verwoben wird.

Den zentralen Teil der Komposition bildet (ab Ziffer 20) die Vision von Roms Gewalt und militärischer Stärke. „Grandioso“ ist diese von Trompetengeschmetter vorbereitete Episode überschrieben, und das Heranrollen eines überwältigenden und gewaltigen Heeres wird in bedrohlich archaischer Harmonik mit leeren Quinten wird geschildert.

Der anschließende Werkabschnitt (Ziffer 34) bildet das friedliche Gegenbild des „Canto popolare“. Die Soloviola ist hier eine bewusste Hommage an Hector Berlioz’ Symphonie Harold en Italie (1834), deren durch die Viola verkörperter Protagonist ebenfalls eine musikalische Wanderung durch Italien unternimmt. (Zu Elgars Prägung durch Berlioz’ literarisches Vorbild Childe Harold’s Pilgrimage von Lord Byron siehe unten.)

Der letzte Abschnitt (Ziffer 40) nimmt als Reprise das Anfangsthema wieder auf; Elgar verwebt es noch einmal mit einer „Moglio“-Reminiszenz und lässt auch das „Nobilmente“-Thema – allerdings in dem ersten Auftauchen entgegengesetztem Charakter, nämlich tranquillo, ppp und dolcissimo (Ziffer 51) – erscheinen, bis die Komposition ihren vergleichsweise lakonischen Abschluss findet.

 

Bearbeitungen und literarische Einwebungen

Bemerkenswert ist, dass Elgar die Melodie des „Canto popolare“ gleich 1904 für unterschiedliche Besetzungen bearbeitet hat, um seiner „Volksmelodie“ eine zweite Existenz in den musikalischen Salons zu sichern. Von Elgars literarischer Kenntnis wie seinen Ambitionen zeugt eine weitere Bearbeitungsform: Unter dem Titel In Moonlight hat er der angeblichen Hirtenweise Gedichtstrophen des frühverstorbenen romantischen Dichters von Percy Bysshe Shelley unterlegt. (Sicherlich war dem literarisch ambitionierten Elgar dabei bewusst, dass Shelley im Alter von 29 Jahren in Italien, im Ligurischen Meer, bei einem Sturm ertrunken ist.) Die Verse stammen aus An Ariette for Music. To a Lady singing to her Accompaniment on the Guitar, und die letzte Strophe beschwört eine ferne idyllische Welt, in der Musik, Mondlicht und Liebesgefühle eins sind:

 

Though the sound overpowers,
Sing again, with thy sweet voice revealing
A tone
Of some world far from ours,
Where music and moonlight and feeling
Are one.
 

Elgar hat in seiner persönlichen Partitur weitere geheime literarische Anregungen festgehalten, die jedoch in der Druckversion nicht erscheinen. Zum einen sind es Verse des viktorianischen Dichters Alfred Lord Tennyson (aus: The Daisy), welche den arkadischen Charakter der italienischen Landschaft unterstreichen:

 

What hours were thine and mine,
In lands of palm and southern pine,
In lands of palm, of orange blossom,
Of olive, aloe, and maize and vine.
 

Eine weitere Assoziation bezog Elgar aus Lord Byrons Childe Harold’s Pilgrimage, der literarischen Inspiration für Hector Berlioz’ Harold en Italie:

 

… a land
Which was the mightiest in its cold command
And is the loveliest …
Wherein were cast …
… the men of Rome!
Thou are the garden of the world.
 

Kalte Macht und liebliche Anmut – diese beiden Extrempole römischer Vergangenheit und italienischer Gegenwart finden sich In the South aufs schönste harmonisiert und vereint.

 

Elgars Aufnahme

Edward Elgar hat uns eine von ihm dirigierte Aufnahme von In the South hinterlassen, die er stückweise 1921 und 1923 eingespielt hat. (Elgar conducts Elgar – The complete recordings; Music&Arts CD-1257 [4 CD]); und wer sich mit der Partitur von In the South beschäftigen möchte, dem sei die entsprechende Internetseite des International Music Score Library Project (IMSLP) wärmstens empfohlen.

In Hayes, im Westen von London, befand sich ein Aufnahmestudio von HMV (His Master’s Voice) des Plattenpioniers Emil Berliner; dieses Studio war der Vorläufer der – von Elgar 1931 eingeweihten – legendären Abbey Road Studios. In Hayes nahm Elgar im Dezember 1921 und im Oktober 1923 jeweils Teile von In the South auf. Die aus heutiger Sicht unzureichenden Wiedergabemöglichkeiten längerer Werke – jede Plattenseite hatte nur wenige Minuten Spieldauer – führte im Allgemeinen dazu, dass Elgar für die Aufnahme in seinen symphonischen Werken erhebliche Kürzungen vornahm, welche seine Musik geradezu amputierten. Bei In the South ist dies interessanterweise nicht der Fall: Die aufgenommene Fassung hat zwar auch sieben Sprünge, die aber jeweils nur wenige Takte betreffen und keine einschneidende Verfälschung darstellen. Trotzdem ist Elgars Aufnahme mit 16 Minuten Spieldauer ca. fünf Minuten kürzer als heutige Einspielungen, was an Elgars irrwitzig schnellem Tempo liegt und die bekannte These untermauert, dass Komponisten nicht unbedingt die besten Interpreten eigener Werke sind: Der Dirigent Elgar versagt seiner Musik jegliches schwelgerische Blühen, obwohl die Partitur davon nur so überfließt. Selbst über die „Nobilmente“- und „Grandioso“-Passagen eilt er hinweg, ja er wird sogar innerhalb desselben Tempos unmotiviert schneller (Ziffer 23 im „Grandioso“). Zudem hört man, wie bei allen derartigen historischen Aufnahmen, nicht den Orchesterklang, den wir uns vorstellen. Denn da selbst großbesetzte Werke in dieser frühen Phase der Tonaufzeichnung nur mittels eines einzigen Mikrophontrichters aufgenommen werden konnten, musste sich das Orchester in ungewohnter und stark verkleinerter Sitzordnung um den Aufnahmetrichter drängen. Faszinierend ist das dadurch völlig ungewohnte Klangspektrum, da man weniger einen Gesamtklang als vielmehr die Summe einzelner Instrumente wahrnimmt. Deren Spieler offenbaren dabei eine individuell deutlich wahrnehmbare und stupende Virtuosität. Beispielsweise klingt der Konzertmeister sehr präsent, weshalb die virtuose Fingerfertigkeit, mit der Elgar die 1. Violinen bedacht hat, geradezu solistisch erfahrbar wird und dem Hörer – rund 100 Jahre nach Entstehung der Aufnahme – höchsten Respekt für die Londoner Orchestermusiker abnötigt.

(c) Michael Schwalb